# taz.de -- Machtübernahme in Afghanistan: Alltag in Angst
       
       > Die Taliban bauen ihre Herrschaft in Afghanistan systematisch aus.
       > Vorerst geht es um die Sicherheitsorgane und eine funktionierende
       > Wirtschaft.
       
 (IMG) Bild: Trügerische Ruhe: die Gegend Kote Sangi in Kabul am 17. August 2021
       
       Bereits zwei Tage nachdem die Taliban mit Ausnahme einiger Enklaven ganz
       Afghanistan unter ihre Kontrolle gebracht haben, wird es schwieriger, sich
       ein Bild von der Lage schon in der Hauptstadt Kabul zu machen.
       Ansprechpartner vor Ort bereiten entweder ihre Evakuierung vor oder
       verbergen sich. Einige unabhängige Medien arbeiten zwar weiter, aber
       reduziert im Umfang, sowohl was Personal als auch Themen betrifft. Man
       beschränkt sich weitgehend auf relativ unverfängliche Berichte darüber, wie
       das Ausland auf die Machtübernahme der Taliban reagiert. Wie es im Land und
       vor allem über Kabul hinaus aussieht, wird dagegen kaum abgebildet.
       Offenbar möchte man abwarten, inwieweit die Taliban diese Berichterstattung
       erlauben werden. Die sozialen Medien bilden ebenfalls nur Splitter der
       Wirklichkeit ab.
       
       Auf dem Twitterkanal des unabhängigen, von einer australo-afghanischen
       Familie aufgebauten Medienunternehmens Tolo berichtete die Korrespondentin
       Hasiba Atakpal auf offener Straße und unter erstaunten Blicken von
       Passanten, dass die Zahl der Frauen, die im Basar sichtbar seien,
       abgenommen habe, aber weiterhin auch Frauen einkaufen gingen. In ihrem
       kurzen Bericht sprach sie von weitverbreiteter Angst unter Frauen und
       besonders Aktivistinnen, erwähnte aber keine konkreten Übergriffe.
       Ebenfalls in den sozialen Medien tauchte ein Video auf, in dem eine Gruppe
       von etwa zehn Frauen im zentralen Kabuler Stadtteil Wasir Akbar Chan
       handgeschriebene Zettel mit Forderungen nach Freiheitsrechten hochhielten.
       
       Auch die Taliban fuhren ihre Medientätigkeit hoch. Sie übernahmen den
       staatlichen Radio- und TV-Sender RTA, und auch ihr ehemaliger
       Untergrundsender Radio Stimme der Scharia soll in Kabul nun hörbar sein.
       
       Zwei parallele Entwicklungen kristallisieren sich heraus, wie sich die
       Taliban der afghanischen Bevölkerung gegenüber verhalten. Zum einen ist da
       der Versuch, ein konziliantes Bild zu zeichnen. Mullah Muhammad Jakub,
       einer der drei stellvertretenden Führer der Bewegung und Sohn dessen
       Gründers Mullah Muhammad Omar, instruierte alle Talibankämpfer, nicht in
       Privathäuser einzudringen. „Niemand hat das Recht, Waffen oder Fahrzeuge
       von früheren Regierungsoffiziellen an sich zu nehmen“, sagte er in einer
       Audiobotschaft, die auch in sozialen Medien verbreitet wurde. „Schützt das
       öffentliche Eigentum!“ Die Taliban verbreiteten erneut auch zwei
       Kontakttelefonnummern ihrer Beschwerdekommission, an die man sich bei
       Verstößen wenden könne.
       
       ## Taliban ernennen Chefs für Kabuls Polizeidistrikte
       
       Maulawi Fathullah Madani, Chef ihres Geheimdienstes in Kabul, teilte mit,
       dass bereits Plünderer festgenommen worden seien. Plünderer und Diebe haben
       von den Taliban harsche Strafen zu erwarten. Letzteres begründete bereits
       während ihrer ersten Herrschaftsperiode zwischen 1994 und 2001 ihren Ruf –
       und die Angst, die ihnen heute vorausgeht.
       
       Zur selben Zeit bauen die Taliban ihre Herrschaft systematisch aus. Die
       Sicherheitsorgane scheinen dabei vorerst im Mittelpunkt zu stehen. Sie
       ernennen nach und nach Chefs für Kabuls 19 Polizeidistrikte und sammeln
       Polizei- und Armeefahrzeuge ein, die im Verlauf der Flucht vieler nach
       ihrer Machtübernahme privatisiert worden waren. Die Ernennung eines
       früheren Parlamentsabgeordneten zum Kabuler Polizeichef wurde inzwischen
       dementiert. Wie in den zuvor eingenommenen Provinzen und Distrikten
       ernennen sie auch ziviles Leitungspersonal, während sie die Angestellten
       von Dienstleistungsbetrieben wie der Wasser- und Stromversorgung und der
       Post zum Weiterarbeiten ermutigen.
       
       Die Taliban legen auch Wert darauf, dass die Wirtschaft weiterfunktioniert.
       Über die Handelskammern wandten sie sich an die Geschäftswelt,
       weiterzuarbeiten „wie bisher“. Von ihren Steuerzahlungen wird eine
       Talibanregierung stark abhängig sein. Der Grenzübergang nach Pakistan in
       Torcham am Khaiberpass in Ostafghanistan soll nach einem Bericht von Tolo
       nach einem Tag Schließung am Montag für den Güterverkehr wieder geöffnet
       gewesen sein. Der Sender berichtete nicht, ob das auch für den
       Personenverkehr galt.
       
       Auch die kleine Gemeinde der verbliebenen afghanischen Hindus und Sikhs
       bekam bereits am Montag Besuch von den Taliban und Sicherheitszusagen.
       Beide Gruppen waren in den vergangenen Jahren, wie auch die bedeutend
       größere Gruppe der Schiiten, Ziel von Anschlägen des örtlichen Ablegers der
       Terrorgruppe „Islamischer Staat“ geworden.
       
       ## Verkündung eines „Islamischen Emirats“ möglich
       
       Zum anderen gibt es aber auch Berichte, dass der Talibangeheimdienst anhand
       von Listen herausgehobene Afghan:innen sucht und sogar bereits verhaftet
       habe. Die Zeitung Etilaat-i-Roz berichtete am Montag unter Berufung auf
       Familienangehörige in Herat, dass dort am Sonnabend der junge Dichter
       Mehran Popal von Talibankämpfern aus seinem Haus „weggebracht“ worden sei.
       Popal, der auf sozialen Medien zur Mobilisierung von Widerstand gegen die
       Taliban aufgerufen habe, sei bisher nicht wieder aufgetaucht. Die Familie
       habe die Talibanbeschwerdekommission kontaktiert, aber gesagt bekommen,
       niemand dieses Namens sei festgenommen worden.
       
       Aus Nordafghanistan sickern erste Berichte durch, dass dort Talibankämpfer
       tatsächlich Frauen und Mädchen aus Häusern geholt hätten – angeblich, um
       als „Köchinnen“ für sie zu arbeiten.
       
       Insgesamt ist unklar, wer das Ziel möglicher Rache oder Übergriffe der
       Taliban werden wird, aber klar ist auch, dass in Afghanistan kaum jemand
       glaubt, es werde keine Rache geben. Shaharzad Akbar, Chefin der
       Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans, hatte die Taliban in
       einer letzten Amtshandlung im Land aufgefordert, allen Bürgern Sicherheit
       zu bieten. Dann ging auch sie außer Landes. Sie war von den Taliban wegen
       der Berichterstattung über deren mögliche Kriegsverbrechen wiederholt
       direkt angegriffen worden.
       
       Die Taliban diskutierten unterdessen in Doha, welche Form ihre Regierung
       annehmen soll und welchen Namen der Staat tragen soll. Die erneute
       Verkündung eines „Islamischen Emirats“ könnte andere politische Kräfte
       abschrecken, etwaige Koalitionsangebote anzunehmen. Diese hatten
       Taliban-Chefunterhändler Mullah Abdul Ghani Baradar, einer der drei
       Vizechefs der Talibanbewegung, zuständig für politische und außenpolitische
       Fragen, zuvor indirekt angekündigt, als er von einer „offenen, inklusiven
       islamischen Regierung“ sprach. Baradar scheint den Prozess zu dirigieren,
       ein Zeichen, dass er in Zukunft eine zentrale Rolle spielen wird.
       
       Währenddessen hat sich der bisherige Vizepräsident Afghanistans, Amrullah
       Saleh, zum Übergangspräsidenten seines Landes erklärt. Nach der Flucht von
       Staatschef Aschraf Ghani sei er gemäß der Verfassung „legitimer
       Übergangspräsident“ Afghanistans, schrieb Saleh am Dienstag auf Twitter. Er
       spreche mit allen Fraktionen, um sich deren Unterstützung zu sichern. (mit
       ap)
       
       17 Aug 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Ruttig
       
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