# taz.de -- Nach dem Abzug aus Afghanistan: Die große Lüge
       
       > Die Erzählung „westlicher Werte“ war lange populär, ist aber längst eine
       > leere Phrase. Das zeigt nicht nur der Umgang mit der Situation in
       > Afghanistan.
       
 (IMG) Bild: Heiko Maas bei seinem Statement zur Lage in Afghanistan, 16.08.2021
       
       Es fehlt so viel. Das ist schon lange so, aber gerade ist das Fehlen so
       laut, dass niemand mehr weghören kann. Es fehlt Verantwortung, Ehrlichkeit,
       Mut, Einsicht. Es fehlt Anstand, vor allem Anstand. Mir fehlen außerdem
       Wörter. Wie nennen wir das Stück, das der sogenannte Westen auf der
       geopolitischen Bühne aufführt? Die Heuchelnden? Die Schäbigen? Die
       Armseligen? Die Schande? Es ist unklar, ob diese Bezeichnungen noch etwas
       auslösen, sie wurden so oft in Münder genommen und noch öfter in die
       falschen. Trotzdem brauchen wir Worte für diese Zeit. Keine nie gesagten,
       denn alles wurde gesagt, immer wieder. Aber etwas, das wiederholt werden
       muss, damit das Entsetzen größer wird als die Gewöhnung.
       
       Gerade habe ich eine Raufasertapete abgerissen. Ich kratzte das weiße Zeug
       von der Wand, es rieselte auf meine Füße und ich hoffte, dass hinter der
       Tapete etwas Schönes liegt, aber leider ist da nur Wand. Wie oft haben Sie
       Ihren Kopf dieses Jahr schon gegen Wände geschlagen? Ich sehr oft. Wir
       kratzen Tapeten ab und andere Verkleidungen, weil es nicht mehr anders
       geht. Es rieselt, wir finden nichts Schönes, nur Wände. Vielleicht passt
       „Die große Lüge“, denke ich. [1][Die große Westliche-Werte-Lüge].
       
       Westliche Werte. Die kommen doch vom Christentum und aus der griechischen
       Philosophie und von der französischen Revolution. Da sollten wir doch an
       Freiheit denken, und an Demokratie und Menschenwürde. Westliche Werte, die
       sollten doch der Gegenpol sein zu Diktaturen und Barbarei und, na ja, zum
       Nichtwesten. Das haben wir doch in der Schule gelernt und dann haben wir es
       wiederholt, immer wieder, ich auch, bis wir es für wahr gehalten haben. Der
       Westen ist gut, gutes Leben, [2][gute Werte].
       
       Stabiles Narrativ, populär wie ein Märchen. Aber jetzt brennt die Erde und
       sogar das Meer, Trump brüllte „America First“ und Biden flüstert es weiter,
       jetzt macht die EU Pushbacks [3][im Mittelmeer], jetzt halten reiche
       Staaten Patente für Impfstoff zurück, jetzt sind lukrative Deals wichtiger
       als die dreckigen Westen ihrer Beteiligten, jetzt gewinnen
       Rechtspopulist:innen Mehrheiten in Europa, jetzt überlässt die Nato
       (Selbstverständnis: „Wertegemeinschaft freier demokratischer Staaten“)
       Afghanistan den Taliban, jetzt hebt ein Flugzeug ab, an das sich Menschen
       klammern, die Bundesregierung fliegt mit einem riesigen Flugzeug beim
       ersten Evakuierungsflug am Dienstag exakt sieben (!) Menschen aus Kabul
       aus. Jetzt trägt man wieder Phrasen über den Schutz von Frauen und
       Minderheiten als Schild vor sich her. Jetzt findet der Kanzlerkandidat der
       Union: „2015 darf sich nicht wiederholen“ – alles jetzt und schon wieder.
       
       Mir rieseln weiße Flocken auf die Füße, als ich denke, dass es diese mit
       rechtsaußen kuschelnde Machterhaltsrhetorik ist, die sich nicht wiederholen
       darf. Dass sich nicht „Wertegemeinschaft“ nennen kann, wer Werte und
       Gemeinschaft verrät. Dass ein humanistisches Vakuum die erbärmlichste
       Antwort ist auf die Bedrohung von Freiheit und Menschenleben.
       
       18 Aug 2021
       
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