# taz.de -- Frauen im Widerstand in Belarus: Ein neues weibliches Subjekt
       
       > Die Philosophin Olga Shparaga analysiert in „Die Revolution hat ein
       > weibliches Gesicht“ den „Fall Belarus“. Ihr Buch hält mehr, als der Titel
       > verspricht.
       
 (IMG) Bild: Demonstrantin gegen Lukaschenko in Minsk
       
       Fast genau ein Jahr ist es her, da erschien ein Land namens Belarus über
       Nacht auf der politischen Landkarte. Eine erneut massiv gefälschte
       Präsidentenwahl zugunsten des langjährigen autoritären Machthabers
       Alexander Lukaschenko am 9. August ließ alle Dämme brechen. Zehntausende
       gingen auf die Straße, wochenlang. Obwohl die Repressionen des Staats gegen
       die Bevölkerung mit beispielloser Härte andauern, ist die Ex-Sowjetrepublik
       aus dem Fokus des öffentlichen Interesses weitgehend wieder verschwunden.
       
       Genau aus diesem Grund kommt der vor Kurzem erschienene Band der
       [1][belarussischen Philosophin und Feministin Olga Shparaga] „Die
       Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus“ zur rechten Zeit.
       
       Um es vorwegzunehmen: Das Buch hält mehr, als der Titel verspricht. Denn es
       geht mitnichten nur um die zentrale Rolle, die viele Frauen bei diesem
       Aufbruch bis heute spielen. Mindestens genauso wichtig ist Shparaga ein
       Rückblick auf die Amtszeit Lukaschenkos und die Faktoren, die das Terrain
       für die revolutionären Ereignisse bereitet haben. Dabei spricht die gut
       lesbare Mischung aus Analyse, theoretischer Einordnung und eigener
       Anschauung auch Leser*innen an, die sich bisher wenig oder gar nicht mit
       Belarus beschäftigt haben.
       
       ## Selbstermächtigung der Frauen
       
       Die Entstehung eines neuen weiblichen kollektiven Subjekts nennt Shparaga
       die Selbstermächtigung der Frauen. Diese beginnt bereits vor der Wahl,
       kommt jedoch vor allem am 12. August 2020 mit einer ersten friedfertigen
       Massenkundgebung auf einem Markt in der Hauptstadt Minsk zum Ausdruck.
       
       Doch alle Solidarität kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie
       unterschiedlich diese Frauen sind, von denen sich viele zum ersten Mal aus
       der Deckung wagen. Für diese Heterogenität stehen mit [2][Swetlana
       Tichanowskaja], Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo auch drei
       Protagonist*innen, die sich nolens volens an die Spitze der Bewegung
       gesetzt und international Bekanntheit erlangt haben.
       
       Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Tichanowskaja, die im litauischen
       Exil lebt und dort einen Koordinationsrat der Opposition leitet, dürfte bei
       vielen Feminist*innen keine Begeisterung auslösen. Sie wolle sich um
       ihre Familie kümmern und wie früher ihre Frikadellen braten, sagt sie auf
       einer Wahlkampfveranstaltung.
       
       Doch statt sich an diesem traditionellen Familienbild abzuarbeiten, leistet
       Shparaga eine Kontextualisierung für ein besseres Verständnis der
       Gesamtsituation. Besonders eindrucksvoll sind die Passagen, in denen die
       Autorin ihre Erfahrungen in Haft schildert – ein Schicksal, das sie mit
       vielen ihrer Landsfrauen teilt. Darüber, welche Energien dieses
       „Empowerment“ unter menschenverachtenden Bedingungen künftig noch
       freisetzen wird, lässt sich derzeit nur mutmaßen.
       
       ## „Sozialvertrag“ garantierte Stabilität
       
       Wie kam es zu dieser „Explosion“? Viele Jahre hat, neben einem repressiven
       Kurs, ein „Sozialvertrag“ den Machterhalt Lukaschenkos gesichert.
       Staatliche Garantien von Stabilität und sozialen Leistungen gegen den
       Verzicht auf politische Rechte und Teilhabe, lautete das Prinzip. Doch
       dieses Stillhalteabkommen erodiert, spätestens seit 2010 mit dem Aufkommen
       einer gut ausgebildeten Mittelschicht. Auch der katastrophale Umgang des
       Staats mit der Coronapandemie forciert diese Entwicklung.
       
       Seit dem vergangenen Sommer bestimmen sich die Belaruss*innen neu. Das
       wirft auch die Frage nach der Bedeutung des nationalen Diskurses für den
       gesellschaftlichen Emanzipationsprozess auf. An diesem Punkt bleiben
       Shparagas Betrachtungen zu oberflächlich. Leider.
       
       Trotz eines hohen Preises, den viele Menschen in Belarus für ihr Engagement
       gezahlt haben, sei es nicht zu einer Erneuerung des politischen Systems
       gekommen, lautet der ernüchternde Befund der Autorin. Doch seien die
       Forderungen nach demokratischen Veränderungen schon jetzt irreversibel –
       eine revolution in progress, wie Shparaga sagt. Zumindest das macht
       Hoffnung.
       
       28 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Barbara Oertel
       
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