# taz.de -- Musikland Brasilien: Einverleiben und verwandeln
       
       > Neue Platten aus Brasilien zeigen, wie die Grenzen der Musikgenres
       > verwischen: Samba wird mit Punk gepaart, Forró mit Rap und Grime mit Funk
       > Carioca.
       
 (IMG) Bild: Ist auf dem Skateboard groß geworden: Luciano Valério (aka MNTH)
       
       Was haben Rock'n'Roll-Sänger Roberto Carlos, Soul-Crooner [1][Tim Maia] und
       die Trash-Metal-Band Sepultura gemein? Die brasilianischen Künstler zeigen,
       wie sich Trends im globalen Pop seit langem im größten Land Lateinamerikas
       widerspiegeln – und in etwas Neues verwandelt werden. Was auch für die
       Subkultur gilt. In der Megacity São Paulo etwa verbreiteten sich
       Graffiti-Kunst und Skaten in den 1980er Jahren und verhalfen HipHop und
       Punk zum Durchbruch.
       
       Auch der Musiker Luciano Valério wuchs damals im Sozialbauviertel Cecap am
       Rande São Paulos mit dem Skateboard auf und hörte US-Bands wie Fugazi und
       Lungfish. Einer der skatenden Nachbarjungs war Kiko Dinucci, heute ein
       gefragter Gitarrist. Rückblickend sagt Valério: „Skate, Metal und Punk sind
       alle Teile der gleichen Welt.“ Unter seinem Alias MNTH hat Valério nun beim
       britischen Label Mais Um ein gleichnamiges (als Kassette und im Stream
       erhältliches) [2][Album] produziert; es wirkt wie ein halbstündiges sonores
       Eintauchen in die experimentelle Musik São Paulos, ein schriller Mix aus
       Dub-Techno, Jazz, afro-brasilianischer Percussion – inspiriert vom Geist
       des Hardcore.
       
       Valério ist integraler Teil dieser Szene und hat bereits 2007 das wichtige
       Label Desmonta mitbegründet, auf dem das Samba-Punk-Trio Metá Metá ebenso
       veröffentlicht wie der Schlagzeuger und Komponist M. Takara (Pharoah
       Sanders, Damo Suzuki). Der steuert seine eigenwillige Percussion auch auf
       dem Album von MNTH bei. Zwischendurch rattert, brummt und fiept es in den
       Sounds dermaßen, dass man sich in einem digital-menschlichen Binärsystem
       wähnt. Ein begeisterter Fan schrieb, die Musik klinge „wie Maschinen, wenn
       sie sich in Wäldern entwickeln würden“.
       
       ## Patti Smith mit Kajalstift
       
       In dem Coming-of-Age-Film [3][„My Name Is Baghdad“] von Caru Alves de
       Souza, der bei der Berlinale im Vorjahr Weltpremiere feierte, geht es
       ebenfalls ums Skaten in São Paulo. Der Film zeigt auf berührende Weise, wie
       sich eine Gruppe Mädchen durch das Skaten emanzipiert. Eine der Hauptrollen
       (als Mutter) spielt Karina Buhr. [4][„Desmanche“], das aktuelle Album der
       großartigen Maracatú-Percussionistin und Sängerin aus Recife („Patti Smith
       mit Kajalstift“), erschien bereits Ende 2019.
       
       Doch es verdient hier noch einmal besondere Erwähnung, weil es sehr
       gelungene, abwechslungsreiche Musik enthält – ein guter Einstieg in das
       Werk einer gereiften, Postpunk mit der Música Popular Brasileira
       verbindenden Künstlerin, die Traumatisches zu verarbeiten hat: Vor einiger
       Zeit machte Buhr öffentlich, wie sie als junge Frau jahrelang von ihrem
       Maracatú-Lehrer psychisch und körperlich missbraucht wurde. Was ihren
       [5][ersten Hit] in einem anderen Licht erscheinen lässt: „Eu sou uma pessoa
       má, eu mentí pra voce“ – „Ich bin ein schlechter Mensch, für dich habe ich
       gelogen.“
       
       Noch älter ist das Album „3 Sessions in a Greenhouse“ von Lucas Santtana.
       Denn das Original wurde bereits vor 15 Jahren in drei legendären
       Studiosessions aufgenommen und von Santtana und Recifes Soundmaster
       Buguinha Dub in den nuller Jahren produziert. „Zeit existierte damals
       nicht. Es gab keine Telefone und wir rauchten das beste Weed in Rio“,
       erinnert sich Santtana. Heraus kam dabei ein Werk, mit dem sich der
       Komponist einen Namen als Solist machte.
       
       Die Musik mischt psychedelischen Samba und scheppernden elektronischen
       Carioca Funk mit spirituellen Dub in guter Black-Ark-Studio-Manier. Das
       Label Mais Um hat das Album nun wieder [6][neu veröffentlicht – remastert]
       vom Berliner Dubproduzenten Pole (Stefan Betke), was Santtanas Tracks einen
       zusätzlichen Drive verpasst.
       
       A propos Wiederveröffentlichungen: Nachdem Far Out Recordings vor fünf
       Jahren José Mauros Album „Obnoxious“, ein nahezu unbekanntes Meisterwerk
       aus dem Jahr 1970, neu aufgelegt hat, folgte im Mai Teil Zwei: [7][„A
       viagem das horas“]. Damit wurde auch ein Gerücht aus der Welt geräumt: Denn
       Mauro ist keinesfalls bei einem Autounfall gestorben, wie es lange hieß,
       sondern lebt in einem Vorort von Rio, allein und verlassen. An die
       eigentümliche [8][Schönheit des Vorgängers] reicht sein zweites Album aber
       leider nicht heran. Was insofern nicht wundert, als es nur Material
       enthält, für das es auf „Obnoxious“ keinen Platz mehr gab.
       
       Wieder sind dramatisch-dissonante Melodien in orchestraler Inszenierung zu
       hören, dazu Mauros Bariton und die rätselhaft-lyrischen Texte seiner
       kongenialen Partnerin Ana Maria Bahiana. Mauro und Bahiana hatten sich vom
       Katholizismus ihrer Familien ab- und dem Candomblé mit seinen
       afrobrasilianischen Rhythmen zugewandt. So fanden sie [9][spirituellen
       Halt] in einer Zeit, als die Militärjunta in Brasilien künstlerische
       Freiheit unterdrückte.
       
       ## Samba auf neuem Label
       
       Diese dunkle Zeit liegt 50 Jahre zurück. Doch es ist kein Zufall, dass
       Militärs in der momentanen rechtspopulistischen Regierung Brasiliens wieder
       besonders tonangebend sind und es viele Brasilianer angesichts der Umstände
       vorziehen, ihre Heimat zu verlassen – zumindest zeitweilig. Dazu gehört
       auch Arícia Mess, deren Stimme an Diven wie Elza Soraes und Dona Onete
       erinnert. Letztere hat dann auch einen Gastauftritt auf Mess´ neuem Album
       [10][„Versos do mundo“], dessen Songs in São Paulo, London und Lissabon
       aufgenommen wurde – jenen Städten, in denen Mess die vergangenen Jahre
       gelebt hat.
       
       Es ist ein schönes, elektronisch angereichertes Samba-Album. Vom neuen
       Label Koro Koro Music veröffentlicht, hat sich Mess dafür auch aus dem
       unermesslichen Fundus der brasilianischen Kultur bedient: Im Song [11][„Há
       quem chame“] vertont sie etwa ein Gedicht Natalia Barros', während „Noite
       de temporal“ („Sturmnacht“) eine Coverversion des Klassikers von Dorival
       Caymmi ist – aufgenommen nach der letzten Präsidentschaftswahl. Seit Jair
       Bolsonaros Amtsantritt hat Mess das Gefühl, eine tiefe Nacht senke sich
       über ihr Land.
       
       Und was ist mit den Sommerhits aus Brasilien? Deren Zeit startet
       normalerweise Ende Dezember, wenn die Temperaturen steigen und die
       Vorbereitungen für die Karnevalsaison beginnen. Doch 2021 fiel sie
       pandemiebedingt aus. Und damit auch Überraschungshits wie etwa
       [12][„Envolvimento“] von MC Loma & As Gêmeas Lacração, drei
       Vorstadt-Teenagerinnen aus Recife, die zum Karneval 2018 das neue
       Hybrid-Genre [13][Bregafunk] populär machten.
       
       Trotzdem hat der aktuelle Popkosmos Brasiliens Einiges zu bieten. Was auch
       daran liegt, dass fast alle Regionen des riesigen Landes neben reichen
       Musiktraditionen lebendige Subkulturen haben. Ein Trend geht zweifellos
       dahin, die Grenzen der Genres zu verwischen. Nehmen wir zum Beispiel Omulus
       und Bnegãos [14][„Salve 2 (Ribuliço Riddim)“].
       
       Die beiden Musiker aus Rio de Janeiro verbinden konventionellen, mit
       Akkordeon und Triangel gespielten Forró aus dem Nordosten mit HipHop und
       dem neuen elektronischen Stil Pisadinha, eine Mischung aus Technobrega und
       Elektro-Forró. Omulu, der bereits vor Jahren aus Funk Carioca und
       karibischen Reggaeton den swingenden Rasteirinha-Stil kreiert hat, liefert
       die Beats und MC-Legende Bnegão rappt in dem Protestsong darüber, was in
       diesen stürmischen Tagen zu tun ist: „Existência, resistência!“.
       
       ## Rassistische Diskriminierung
       
       Wichtigster Trend im Underground ist momentan die Adaption und (in der
       Tradition des kulturellen Kannibalismus stehende) fröhliche Einverleibung
       und Verwandlung von britischem Grime- und Drillsound durch
       afrobrasilianische Künstler, darunter zunehmend [15][Frauen]. Es sind eher
       düstere Genres, deren Beliebtheit im Land von Bossa Nova und Samba
       überraschen mag.
       
       Wie in Großbritannien ist gerade der Drill (wegen seiner Verbindung zur
       Gangkriminalität) auch in Brasilien rassistischer und klassistischer
       Diskriminierung ausgesetzt. Immerhin gibt es eine Reihe von Internetradios,
       die den neuen Sound spielen und mit [16][„Brasil Grime Show“] einen eigenen
       Youtube-Kanal.
       
       Damit haben Grime und Drill gewissermaßen den Stab vom marginalisierten
       Funk Carioca aus den Favelas der urbanen Peripherien des Landes übernommen;
       MCs wie Fleezus and Febem aus São Paulo und SD9 and LEALL aus Rio de
       Janeiro – und Frauen wie N.I.N.A. Viele haben laut der Rapperin aus Rios
       Favela Cidade Alta immer noch Probleme damit, wenn „Schwarze Frauen Musik
       machen, glaubwürdig sind und ihre eigenen Ideen verwirklichen“.
       
       Dabei ist N.I.N.A geradezu unwiderstehlich, wenn sie ihre
       Konkurrent*innen in [17][„A bruta, a braba, a forte“] als
       Klapperschlange zum battle auffordert: „Wenn Schlangen mit einer Umarmung
       töten/ Zeige ich dir die Umarmung des Todes.“
       
       22 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Lebemann-Triathlet-Erleuchteter/!5490957/
 (DIR) [2] https://mnth.bandcamp.com/album/mnth
 (DIR) [3] https://www.berlinale.de/de/archiv-auswahl/archiv-2020/programm/detail/202005616.html
 (DIR) [4] https://www.youtube.com/watch?v=NJf7Z4gjcGs
 (DIR) [5] https://www.youtube.com/watch?v=CilwlEsetig
 (DIR) [6] https://lucassanttana.bandcamp.com/album/3-sessions-in-a-greenhouse
 (DIR) [7] https://josemauro.bandcamp.com/album/a-viagem-das-horas
 (DIR) [8] /Die-brasilianische-Tropicalismo-Bewegung/!5386980
 (DIR) [9] https://www.theguardian.com/music/2021/jun/02/that-was-the-day-i-knew-i-had-died-jose-mauro-the-reborn-genius-of-bossa-nova
 (DIR) [10] https://ariciamessartist.bandcamp.com/album/versos-do-mundo
 (DIR) [11] https://www.youtube.com/watch?v=_Ex9bY8MMGQ
 (DIR) [12] https://www.youtube.com/watch?v=lgJOJAmXlBw
 (DIR) [13] /Global-Pop-aus-Brasilien/!5681450
 (DIR) [14] https://www.youtube.com/watch?v=SqbUFmBLOe8
 (DIR) [15] https://pitchfork.com/thepitch/meet-the-women-bringing-brazilian-grime-and-drill-to-new-heights/
 (DIR) [16] https://www.youtube.com/channel/UCPuIr0zPwjWcTO4WSEK6hGg
 (DIR) [17] https://www.youtube.com/watch?v=iOFdEpMFMyA
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ole Schulz
       
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