# taz.de -- Kritik an Boomern: Wir sind nicht privilegiert!
       
       > Konsumsüchtig?! Wachstumsgläubig?! Umweltschweine?! Wer die
       > Boomer-Generation so unreflektiert hatet, disqualifiziert sich selbst.
       
 (IMG) Bild: – Polizeieinsatz zur Räumung des Hüttendorfes an der Baustelle der Startbahn 18 West des Frankfurter Flughafens 1981
       
       Zwei Jahre lang habe ich gedacht: Das kann die nicht besser wissen. Das hat
       der bloß so zugespitzt. Das hört schon wieder auf. Aber nachdem nun auch
       Kolleg:innen, die ich ansonsten sehr schätze, das Feindbild der Fridays for
       Future übernehmen und sich auf „die Boomer“ als Quelle allen (Klima-)Übels
       einschießen, reicht es mir. Schluss damit! Hört endlich auf!
       
       Privilegiert?! Konsumsüchtig?! Wachstumsgläubig?! Wer eine Generation so
       allgemein und unreflektiert hatet, kann nur im Tal der Ahnungslosen wohnen,
       ohne Internet, ohne Bibliotheken, ohne Kontakt zu Menschen, die zwischen
       Mitte der 1950er und Ende der 1960er Jahre geboren sind. Da hätte man
       ansonsten nämlich einfach mal nachlesen können, wer oder was diese Boomer
       eigentlich sind. Oder besser noch: Eine:n von ihnen fragen.
       
       Ich zum Beispiel hätte bereitwillig geantwortet. Hätte berichtet, wie
       undankbar es war, im selben Jahr geboren worden zu sein wie 1.357.303
       andere Kinder in Deutschland, das damals noch BRD und DDR war. Denn das
       Wort „Boomer“ hat nichts mit gut, groß, schön oder teuer zu tun. Es ist die
       Abkürzung von Babyboomer, was nur heißt: Verdammt viele Schreihälse auf
       einmal. Zu viele. Viel zu viele…
       
       Kleiner Vergleich gefällig? Voriges Jahr kamen hierzulande gerade mal
       773.100 Babys auf die Welt, das sind fast die Hälfte weniger.
       
       ## Hunsrück, wir kommen!
       
       Warum die Geburtenrate in meiner Kindheit explodierte, ist schnell erzählt:
       Zum Babyboom kam es, als der Zweite Weltkrieg lange genug her war und es
       wieder genug Männer und in der Bundesrepublik, in die ich hineingeboren
       wurde, auch einen gewissen Wohlstand gab. Wobei Wohlstand hieß, dass sich
       die Familien einen (!) gebrauchten (!) VW oder Opel und ein (!) Telefon
       leisten konnten. Oder zwei Wochen Sommerurlaub. Im eigenen Land natürlich,
       fast wie heute mit Corona: Nordsee, Eifel, Hunsrück – wir kommen!
       
       Dafür war die Verhütung ein Problem. [1][Die Antibabypille]? Die musste
       erst noch zugelassen werden und gab es dann dank der bundesdeutschen
       Ärztemoral auch nur für Verheiratete, die schon drei oder vier Kinder plus
       schlimmste Menstruationsbeschwerden hatten. Erst 1970 änderte sich die
       Verschreibungspraxis – und, oh Wunder!, mit dem Babyboom war es dann
       schnell vorbei.
       
       Zur Generation der Babyboomer zu gehören, hieß also vom ersten Atemzug an
       keinen Platz zu haben. Spielwiesen waren überfüllt, Kindergartenplätze
       praktisch nicht vorhanden. In der Schule stopfte man uns mit 45 Mädchen und
       Jungen in eine Klasse. Bei den Ausbildungsstellen reichte es dann gar nicht
       mehr, und die Hochschulen waren schon vollgelaufen, bevor wir uns
       immatrikulieren konnten.
       
       War doch genau mein Jahrgang nicht der erste große, dafür aber zahlenmäßig
       der stärkste. Diejenigen, die es von uns dann doch irgendwie ins
       Arbeitsleben schafften, zahlen zwar brav anderen die Rente. Doch für unsere
       eigene werden wir natürlich immer noch zu viele sein – und für die
       Pflegeversicherung erst recht.
       
       Wir, werte Generation X, Y, Z, waren die ersten in der Bundesrepublik, für
       die brüchige und unstete Berufswege mit geringfügiger Beschäftigung, mit
       schlecht bezahlten Tätigkeiten, mit Niedriglohn und Leiharbeit normal
       waren. Um uns herum bauten die Regierungen den Sozialstaat erst ein
       bisschen aus, dann aber rapide ab, bis er nicht mehr wiederzuerkennen war,
       und erfanden im Zusammenspiel mit den Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden
       und deren Verbündeten die „Ellbogengesellschaft“. Egoismus, Konkurrenz,
       Rücksichtslosigkeit und Eigennutz hießen die neuen Tugenden, mit denen wir
       uns aus der Masse herausrüpeln sollten.
       
       Wer das alles gar nicht wissen will und sich stattdessen ein
       „Boomer-Privileg“ herbeifantasiert, sollte nicht anderswo von Wokeness
       reden!
       
       Hättet Ihr mich gefragt, hätte ich Euch auch etwas anderes erzählt: Zum
       Beispiel, dass es ein Mythos ist, dass sich Boomer nicht für die Zukunft
       unseres Planeten interessieren. Wer bitteschön hat denn Anfang der 1980er
       Jahre gegen das [2][Waldsterben] protestiert, das vor allem die Folge des
       sauren Regens war? Wer hat es geschafft, dass die europäischen Staaten, die
       USA, Kanada und die Sowjetunion 1983 das Genfer Luftreinhalteabkommen
       abschlossen?
       
       Dass Rauchgase entschwefelt wurden, sich der Katalysator durchsetzte,
       Grenzwerte für Schwefeldioxidausstoß und Stickoxide festgelegt wurden?
       Boomer kämpften gegen ozonschichtvernichtende
       Fluorchlorkohlenwasserstoffe, gegen Autobahnen, gegen Atomkraftwerke,
       Wiederaufbereitungsanlagen, Endlager, aber auch gegen die Stationierung von
       Mittelstreckenraketen im Kalten Krieg – und gegen die Asylpolitik der
       Bundesregierung.
       
       Und falls ihr Millennials und Fridays-for-Future-Kids nicht von selbst
       drauf kommt: Dass vieles nur stockend voranging und manchmal auch erfolglos
       geblieben ist, liegt nicht daran, dass wir nicht wollten – vieles dauert
       einfach. Weil Politik und Diplomatie komplizierter sind, als man auf den
       ersten Blick denkt und es eben auch viele Menschen gibt, die sich von so
       ein paar Weltverbesserern nicht das Geschäft vermiesen lassen wollen. Und
       überhaupt: Wir hatten kein Internet und keine Mobiltelefone, mit denen wir
       uns einfach mal per Knopfdruck vernetzen oder unsere Botschaften verbreiten
       konnten.
       
       Vor ein paar Jahren lud das Familienministerium übrigens zu einem
       [3][Runden Tisch „Generation Babyboomer“] ein, weil man uns als
       „demografische Herausforderung“ erkannt hatte. Das hieß übersetzt: Hilfe,
       was tun, wenn die mal alle alt sind? Können die für ihre Armutsrente nicht
       auch noch irgendetwas leisten? Schönen Dank auch.
       
       Doch man wollte herausfinden, wie es um die Einsatzbereitschaft von uns
       Boomern steht. Das Ergebnis: Wir engagieren uns spontan und projektbezogen,
       wir sind bereit, uns „in Netzwerken oder Aktionsbündnissen zu
       organisieren“, sind aber „weniger gewillt“, uns „institutionell an Parteien
       zu binden“. Politikverdrossen ist das nicht, politikerverdrossen aber sehr
       wohl.
       
       ## Soziologische Schubladen
       
       Politisch engagiert, ohne mit dem politischen Personal und der
       Parteienlandschaft zufrieden zu sein – das habe ich doch zuletzt auch in
       einem anderen Zusammenhang gelesen. Ach ja, in den jüngsten Jugendstudien
       von Sinus und Shell – über die Millennials und die Fridays for Futures,
       auch Generation Y und Z genannt. So weit können wir also gar nicht
       auseinander liegen.
       
       Hätte man mich gefragt, hätte ich deshalb wohl auch erklärt, dass diese
       Generationenbegriffe vor allem soziologische Schubladen sind. Das wahre
       Leben ist doch viel durchlässiger und unaufgeräumter, findet Ihr nicht?
       Oder wie erklärt ihr euch, dass Leute in eurem Alter normalerweise liebend
       gern um die Welt jetten – „Ich will erstmal ein bisschen rumreisen nach dem
       Abi“ – was fast immer Australien oder Neuseeland heißt – und ein schönes,
       großes Auto zum 18. Geburtstag öfter mal die Nummer eins auf der
       Wunschliste ist?
       
       Gleichzeitig gibt es natürlich auch Babyboomer, die man nicht haben
       will: Den Kanzlerkandidaten der Union, Armin Laschet, zum Beispiel, der
       schon als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident ganz schlimme
       Klimapolitik macht. Oder Ex-RWE-Chef Rolf Martin Schmitz, der ohne Not den
       Hambacher Forst räumen und roden ließ. Oder Multimilliardärin Susanne
       Klatten, die sich als BMW-Großaktionärin gegen die Klimavorgaben wehrt.
       
       Aber es gibt eben auch die anderen. Die NGOs gründeten, wie Heffa Schücking
       die Umweltorganisation [4][Urgewald]. Oder Peter Fuchs den Verein für eine
       ökologisch-solidarische Energie- und Weltwirtschaft [5][PowerShift]. Die in
       die Wissenschaft gingen wie Postwachstumsapologet Niko Paech,
       Umweltökonomin Claudia Kemfert und Scientists-for-Future-Gründer Gregor
       Hagedorn.
       
       Hättet Ihr mich gefragt, hätte ich also vielleicht auch einfach gesagt: Die
       Grenze verläuft nicht zwischen Boomern und Generation X, Y oder Z, sie
       verläuft zwischen oben und unten. Und sie verläuft zwischen denen, die das
       Klima retten wollen, und denjenigen, denen es scheißegal ist. Kiddies,
       kapiert das endlich!
       
       10 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Soziologin-ueber-60-Jahre-Pille/!5703215
 (DIR) [2] /Waldzustandsbericht-2020/!5753806
 (DIR) [3] https://www.iss-ffm.de/fileadmin/assets/veroeffentlichungen/downloads/runder-tisch/816_dokumentation_workshop_babyboomer.pdf
 (DIR) [4] https://urgewald.org/
 (DIR) [5] https://power-shift.de/
       
       ## AUTOREN
       
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