# taz.de -- Trotz der Generation X: Als die Zukunft noch egal war
       
       > Die Generation X wuchs in einer Gegenwart auf, in der viel konsumiert und
       > wenig protestiert wurde. Eine Selbstkritik.
       
 (IMG) Bild: Babyboomer gegen die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf in München 1986
       
       Wir sind wirklich hoffnungsvoll gestartet. Wir – damit meine ich die Kinder
       der Achtziger, geboren irgendwann zwischen Ende der Sechziger und Mitte der
       Siebziger in der BRD. Dieses Wir ist [1][natürlich ein hypothetisches,
       konstruiert] aus ganz persönlichen Erfahrungen und einem naturgemäß völlig
       unvollständigen Datenabgleich.
       
       Die erste Generation ohne direkte Auswirkungen eines Krieges, von den alten
       Nazis in der Familie, der Nachbarschaft und dem Schuldienst mal abgesehen.
       Es ging ums Wohlstandsichern, Häuschen abbezahlen, sich was leisten können.
       Offiziell herrschte Frieden, aber wir changierten in einem merkwürdigen
       Zustand aus Bequemlichkeit und Bedrohung. Der uns allerdings nicht zu
       irgendwelchen Aktivitäten veranlasste, wir hockten stattdessen drinnen vor
       dem Fernseher und zogen uns die Welt vom Sofa aus rein. Die RAF bombte sich
       noch unter letzten Zuckungen durch die Republik, Kriegstreiber Reagan
       stationierte Pershings in Deutschland und wir hockten in unserer
       bundesdeutschen Innerlichkeit und heulten bei „E. T. – Der Außerirdische“.
       
       Wir sind noch zwischen Blöcken aufgewachsen, in einer binären Welt – da
       fiel die Orientierung deutlich leichter. Anfang der Achtziger, zu Zeiten
       des Nato-Doppelbeschlusses und den Protesten gegen Brok- und Wackersdorf,
       haben wir als Kinder noch blind alles inhaliert, heiß gewünscht und toll
       gefunden, was aus den USA kam: Musik, Süßkram mit klebriger Erdnussbutter,
       Jeans, die einen nicht gar so birnenförmig erscheinen ließen.
       
       Natürlich gab es unter uns auch die, die dann später Anwälte geworden sind
       – weniger aus Gründen der Gerechtigkeit, sondern damit der Konsum nie
       wieder aufhören muss. Die, die nur auf Kohle aus waren, gab’s halt immer.
       
       Keine Ideale zu haben ist viel leichter zu erfüllen. Wer kein blinder
       Konsument sein wollte, der war halt irgendwie links. Dafür reichte es
       schon, dass man die Amis nicht ganz so toll und die Sowjetunion nicht ganz
       so scheiße fand. Man musste sich einfach nur bequem irgendwo einfädeln,
       denn die Wege der echten Rebellion waren bereits kindersicher für uns
       vorplaniert: Die 68er waren jetzt Lehrer und bei den frisch gegründeten
       Grünen, die Friedensbewegung war genauso erfunden wie die Proteste gegen
       Atomkraft. Und der Punk [2][war längst schon wieder tot].
       
       Es war nicht mehr ungewöhnlich, dass beide Eltern arbeiteten, wir bekamen
       also den Haustürschlüssel mit Paketkordel um den Hals gehängt und durften
       fortan zu Bürozeiten unbeobachtet jung sein, nach Schulschluss die
       klebrigen Liköre aus Papas Hausbar austrinken und keine größere Not haben
       als die der eigenen Hormone, des nächsten Konsums und der dringende Wunsch,
       jemanden zu finden, mit dem man zu Tracey Chapman knutschen kann.
       
       Moden und Gesinnungen gab es zuhauf im Angebot, man musste sich nur eine
       aussuchen und sich dementsprechend uniformieren. Mufflige Wildlederjacke
       vom Flohmarkt als Ausweis dafür, dass wir zu den Guten gehören, Poloshirts
       [3][mit hochgestelltem Kragen und dem kleinen Krokodil] auf Brusthöhe für
       die anderen. Zum Bund oder Zivi, Lehre oder Studium, Interrail oder Lloret
       de Mar – das waren erst mal die dringendsten Fragen.
       
       ## Risikoarme Westarroganz
       
       Wir demonstrierten hin und wieder gegen eine damals glücklicherweise noch
       überschaubare Anzahl von Nazis – bis die Wende kam. Ihr im Osten hattet
       zwar keine richtigen Jeans und auch keinen richtigen Sozialismus, aber
       dafür eine richtige Revolution. Ihr habt euch 1989, ganz im Gegensatz zu
       uns, wirklich was getraut, und wir standen da mit unserer risikoarmen
       Westarroganz und machten ein dummes Gesicht. Wir knutschten und vögelten
       den aus dem anderen Deutschland mal einen Sommer lang als gegenseitige
       Trophäenjagd, aber so richtig warm wurden wir trotzdem nicht miteinander.
       
       Wir kreisten mit dem Walkman auf den Ohren, abgekoppelt auf der eigenen
       Umlaufbahn, während ein paar gleichaltrige Nerds – die Ersten, die lieber
       mit Pacman auf dem heimischen Fernseher statt mit echten Menschen
       interagierten – auf der anderen Seite des Atlantiks beschlossen, einen
       Golem namens Google zu erschaffen, um sich bald sämtliche Informationen der
       Welt untertan zu machen. Aber das wussten wir damals noch nicht. Auch
       Tschernobyl konnte uns nicht aus unserer Bräsigkeit reißen. Ich erinnere
       mich noch, als ich vom Uni-Asta frisch politisiert und die Gesinnung
       zwischen Infoladen und Bauwagenplatz zum Sixpack gestählt, in einem
       Anti-AKW-Camp herumhing und ankettungswillig an den Bahngleisen den
       Castortransport herbeisehnte, der dann nicht kam.
       
       Stattdessen lauschten wir abends andächtig den Vorträgen verhärmter
       RAF-Veteranen, die selbstgedrehte Kippen zwischen ihren gelben Fingern
       hielten und ex cathedra von der Isolationshaft referierten, dem bewaffneten
       Kampf und dem Bullenstaat.
       
       ## Bleibendes der Generation
       
       Jetzt sind wir alle um die fünfzig, und ich kann mich nicht erinnern, dass
       unsere Generation irgendwas Bleibendes gerissen hätte – weder musikalisch
       noch literarisch noch gesellschaftlich. Wir haben nichts erfunden, nichts
       gegründet, die Welt wirklich nicht vorangebracht.
       
       Auch das erbärmlich-hilflose X als Bezeichnung ist mehr Krücke als Ausdruck
       eines Lebensgefühls. Höchstens: Ein Satz mit X – war wohl nix. Natürlich
       gibt es viele ehrenwerte Menschen, die Ärzte oder Lehrer geworden sind, ein
       paar Journalisten oder Schauspieler sind auch dabei – aber sonst?
       
       Wir haben halt ein bisschen rumprobiert, dabei aber vor allem uns selbst im
       Blick. Die meisten verkrochen sich mit Eintritt ins Steuerzahleralter
       zurück in die dröge Innerlichkeit ihrer Jugend, diesmal im geerbten Haus
       mit selbst gefliester Terrasse.
       
       ## Von hinten überholt
       
       Viele haben inzwischen Jobs mit aufgeblasenen, englischen Bezeichnungen,
       verkaufen irgendwas und gucken auf ihren Firmenfotos im Anzug willensstark
       in die Kamera.
       
       Muss ja. Immer war irgendwer schneller als wir, und jetzt werden wir auch
       noch mit Karacho von hinten überholt: Die Klimakids, LGBTQ,
       Gendergerechtigkeit, MeToo und endlich mal ein ernstzunehmendes Aufbegehren
       gegen Rassismus in den Institutionen. Kam alles nicht von uns.
       
       Anstatt zum ersten Mal so etwas wie Größe zu zeigen, dass jemand das tut,
       was wir uns immer als Privileg eingefordert hatten, nämlich, es besser zu
       können, werden wir stattdessen auch noch knurrig. Natürlich fanden wir
       Fridays for Future am Anfang toll. Es ist großartig, junge Menschen für
       eine gute Sache demonstrieren zu sehen, wenn man sich selbst auch noch
       heimlich dazu zählt. Bösen Konzernen irgendwas wegzunehmen – da sind wir
       natürlich dabei. Theoretisch.
       
       ## Zu den Guten gehören
       
       Aber wir als Kreateure und Kreaturen des perfekten Konsums sollen uns
       selbst auch noch immer grenzenloser verfügbare Freuden verkneifen? Ach
       komm, hört doch uff, man kann’s auch übertreiben! Gemeinschaft und
       Solidarität haben wir verwöhnten Solisten einfach nicht wirklich gut drauf.
       Diese Kids mit ihrer heiligen Ernsthaftigkeit im Verzicht machen uns auch
       ein bisschen Angst: Veganismus, selbst wenn keiner hinguckt, Lastenrad
       statt Sitzheizung im lausigen November und nicht mal ein sexistischer Witz,
       wo wir doch alle wissen, dass es gar nicht so gemeint ist? Richtig
       ernsthaft können wir nämlich gar nicht so gut, Zynismus beherrschen wir
       besser – den kalten, abgefuckten Sound der Achtziger.
       
       Natürlich sind wir für Gleichberechtigung. Ich war schon Feministin, als
       sie noch Emanzen hießen. Gendern ist völlig o. k. Aber mit Augenmaß, Kinder
       – überall diese Gendersternchen, das sieht ja aus wie Einschusslöcher, so
       kann man doch kein Buch mehr lesen! Macht uns doch unsere heimelige, duale
       Welt nicht gleich kaputt. Wahrscheinlich kommen wir auch deshalb auf „nicht
       binär“ nicht gut klar. Muss jetzt jeder persönlichen Spielart mit
       größtmöglichem politischem Tamtam Rechnung getragen werden?
       
       Das denken wir heimlich, wenn keiner hinguckt, und schämen uns, weil wir
       auf den nicht mehr vorplanierten Wegen alles andere als trittfest sind.
       Wenn wir ehrlich sind, sind wir schon längst die alten weißen Männer.
       Irrlichtern wie Catweazle durch eine unübersichtlich-diverse Welt, der wir
       uns immer noch halsstarrig verweigern, weil wir sie nicht selbst gestaltet
       haben. Unsere Kernkompetenz ist der Trotz. Natürlich wollen wir zu den
       Guten gehören, aber trotzdem auch mal ganz sorglos grillen. Das haben wir
       uns verdient – wir sind schließlich schon länger da.
       
       Die Hälfte unseres Lebens haben wir jetzt schon hinter uns. Also immer noch
       genügend Zeit, um endlich mal Größe zu zeigen und neidlos die nächste
       Generation vorzulassen. Die es einfach besser draufhat. Oder um vielleicht
       selbst doch noch etwas zu reißen.
       
       1 Jun 2021
       
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