# taz.de -- 100. Geburtstag Sophie Scholl: Eine deutsche Geschichte
       
       > Sophie Scholl, die Widerstandkämpferin gegen die Nazis, wird verehrt wie
       > eine Heilige. Doch wie wurde aus der Studentin und Gottsucherin eine
       > Ikone?
       
 (IMG) Bild: Im Mittelpunkt: Sophie Scholl, umgeben von ihrem Bruder Hans (li.) und Mitstreiter Christoph Probst
       
       Zum hundertsten Geburtstag von Sophie Scholl am 9. Mai 2021 erscheint eine
       20-Euro-Sammlermünze aus Silber. Erstaunlich, [1][was das
       Finanzministerium im Bild eines pummeligen Mädchens im Kleid mit
       Rüschenkragen und herabhängenden Haarsträhnen erblickt]: „Die Bildseite
       zeigt ein Porträt von Sophie Scholl, das ihre besondere Persönlichkeit
       sichtbar macht. Die junge Frau signalisiert schon durch ihre äußere
       Erscheinung geistige Unabhängigkeit, Klarheit und Weisheit und die Kraft,
       zu ihren humanitären Prinzipien auch in höchster Lebensgefahr zu stehen.“
       
       Nur wer bereits von der Außergewöhnlichkeit der Porträtierten überzeugt
       ist, kann das auf der Münze erkennen. Dabei entspricht die charakterliche
       Beschreibung Sophie Scholls durchaus ihrem Öffentlichkeitsbild. Man verehrt
       sie wie eine Heilige. Doch wie wurde aus der Studentin, Gottsucherin und
       Freiheitskämpferin eine Ikone, ein Kultbild?
       
       Sophie Scholl gehörte mit ihrem Bruder Hans zu einer sechsköpfigen
       Widerstandsgruppe, die 1942/43 in München und anderen Großstädten mit sechs
       Flugblättern gegen Hitler kämpfte. Sie riefen im Namen der Freiheit zu
       Widerstand, Sabotage und Umsturz auf und beriefen sich dabei auf ein
       humanistisches und christliches Weltbild.
       
       Die 21-jährige Studentin war die Jüngste und einzige Frau neben vier
       Studenten und einem Professor. Sie wurden im Laufe des Jahres 1943
       hingerichtet. Nach dem Krieg nannte man die Freiheitskämpfer „Weiße Rose“,
       weil die ersten vier Flugblätter so überschrieben waren. Im Westen
       Deutschlands sah man in der Gruppe zunächst naive Idealisten, im Osten
       sozialistische Antifaschisten.
       
       1946 veröffentlichte die Schriftstellerin Ricarda Huch in der Hessischen
       Zeitung einen Aufruf. Unter dem Titel „Für die Märtyrer der Freiheit“ bat
       sie, ihr Briefe und Erinnerungen an den Widerstand im Dritten Reich zur
       Verfügung zu stellen, denn sie wolle ein „Gedenkbuch“ zu Ehren dieser
       „Heldenmütigen“ verfassen. Inge Scholl, die Älteste der Scholl-Kinder,
       antwortete der Dichterin und kündigte einen Beitrag über ihre Geschwister
       an.
       
       Sie hoffte, Huchs Werk werde „ein starkes Gegengewicht bedeuten gegenüber
       all dem Unrat, der schon über die Lieben publiziert wurde“. Inge Scholl
       hatte schon früh den Kampf um die Deutungshoheit der Weißen Rose
       aufgenommen. Sie war zeitlebens fest davon überzeugt, alleine zu wissen,
       wie die Dinge „wirklich“ waren und dass ausschließlich ihre familiäre
       Interpretation der beteiligten Personen und ihrer Taten richtig sei.
       
       Im März 1947 sandte Scholl die „Biographischen Notizen“ an Huch. Es ist die
       erste ausführliche Zusammenfassung und Interpretation des Lebens von Hans
       und Sophie aus der Sicht der Schwester. Sie will zeigen, wie es zum
       Widerstand 1942/43 kam. Dabei muss man sich klarmachen, dass sie damit auch
       der schmerzhaften Frage nachging, warum sie von ihren Geschwistern nicht in
       den Widerstand miteinbezogen wurde, sogar gänzlich ahnungslos war.
       
       Die 49 Seiten sind ein hochemotionaler, psychologischer Erklärungsversuch,
       eine Rückprojektion und Selbstkonstruktion, eine ahistorische Überhöhung.
       Die „Notizen“ waren der Vorläufer zu ihrem fünf Jahre später publizierten
       Buch „Die Weiße Rose“.
       
       Inge Scholl verbreitete Sophie Scholls Ruf, bereits als Kind etwas
       Besonderes gewesen zu sein. Sie habe eine „ungewöhnliche Reife“ besessen,
       „etwas ausgesprochen Eigenes und Ursprüngliches“, ein „eigenartiger Charme“
       habe sie ausgezeichnet, der „in keinem Widerspruch zu ihrer wundersamen,
       unnennbaren Kindlichkeit“ stand.
       
       Nicht nur die Kindheit Sophies wird von ihr überzeichnet, auch die Zeit als
       Jugendliche und junge Erwachsene. Inge Scholl marginalisiert die
       Hitlerjugendjahre ihrer Schwester unzutreffend als „kurze Episode“. In
       Wirklichkeit war Sophie sieben Jahre lang – auch in leitender Position –
       aktives Mitglied der Naziorganisation.
       
       Sozialismus stand nicht nur im Namen der NSDAP, er war Programm und sollte
       in der Volksgemeinschaft verwirklicht werden. Sophie versuchte, das in
       ihrer Gruppe des Bundes Deutscher Mädel (BDM) zu realisieren, unter
       anderem, indem der mitgebrachte Proviant zufällig verteilt wurde. Inge
       Scholl schreibt: „Ein ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit war sowohl Hans
       als auch Sophie zutiefst eigen.“
       
       Für Inge Scholl war alles – Sophies Kindheit und Jugend – eine Vorbereitung
       auf die heroischen Widerstandswochen 1942/43: „All dies Suchen im
       Geistigen, dieser Gang durch den Garten der Kultur, ist wie ein
       allmähliches Vorbereiten – so erscheint es mir heute mit dem Blick des
       Abstandes – auf eine Entwicklung, die mit dem Beginn des Krieges sich
       anbahnte.“
       
       Die Schwester hat den Eindruck, als sammle sich alle Welt und Weisheit der
       europäischen Kultur in Hans und Sophie, werde durch sie wieder geboren und
       erstrahle in neuem Glanz. Sie schreibt: „Wie ein voller, überfliessender
       Becher drängte sich das Geistige an ihre Lippen. Es war, als drängte sich
       das ganze Abendland in sie ein, um in ihrem strahlenden Tod mitzuerstrahlen
       und aufs Neue in zarter, neuer Weise lebendig zu werden.“
       
       Auf den letzten Seiten ihrer „Biographischen Notizen“ stilisiert sie sich
       selbst zur Widerständlerin. Sie reiht sich ein in den Kampf ihrer
       Geschwister und erweckt den Anschein, von Anfang an dabei gewesen zu sein:
       „Das [Verbrecherische] steigerte sich und trieb uns schliesslich in einen
       bewußten passiven Widerstand hinein. […] Las man es uns nicht vom Gesicht,
       von den Augen ab, dass wir anders waren, dass wir ihre Todfeinde sein
       mussten, weil uns unser ganzes Wesen dazu trieb, unsere ganze Einsicht und
       alles, was uns teuer und wert war?“
       
       Inge Scholl vollendet die ikonografische Lebenstafel ihrer Schwester: Im
       Gericht habe sie den Nazi-Richtern ihre Verachtung ins Gesicht
       geschleudert. In den letzten Stunden habe sie „immerzu“ strahlend
       gelächelt, „als schaue sie in die Sonne“. Sie sei „aufrecht zum Schafott“
       gegangen, „ohne mit der Wimper zu zucken und noch einen Gruss an den
       unmittelbar folgenden Bruder auf den Lippen“.
       
       Und sie sagt, wie ihr Gemälde zu verstehen ist: Diese „fast selig zu
       nennende Heiterkeit im Angesicht des Todes“ bedeute „in keiner Weise, dass
       sie etwa das Leben missachtet hätten. Im Gegenteil, sie liebten es und
       nahmen es hin mit derselben Inbrunst, mit der sie sich im Tode
       verschenkten. Aber sie sahen seinen letzten Sinn in einer Seligkeit, die
       jenseits aller Zerstörung ist und der sie entgegengingen im Glauben an
       Christus den Sohn Gottes“. Woher Inge Scholl das alles wusste, bleibt
       ungeklärt, denn sie war nicht im Widerstand, Gericht und Gefängnis.
       
       Die Geschichte der Weißen Rose, nicht nur Sophie Scholls, wurde von
       traumatisierten Familienangehörigen erzählt und gedeutet. Eltern und
       Geschwister, Frauen und Kinder, Freundinnen und Freunde blieben
       konsterniert zurück, niemand war in den Widerstand eingeweiht.
       
       Inge Scholl versuchte, diese psychische Erschütterung zu lindern, indem sie
       sich am zweiten Todestag ihrer Geschwister 1945 erneut taufen ließ –
       diesmal römisch-katholisch, und sie stellte ihr Leben in den Dienst der
       Erzählung von Hans und Sophie. Sie erhob ihre Stimme – was sie während der
       NS-Zeit nicht getan hatte – gegen die Mehrheitsmeinung der Mitläufer und
       Täter.
       
       In diesem Kampf bestimmte sie, welches historische Material veröffentlicht
       wurde und was unter Verschluss blieb. Bis heute unterliegen einige
       Materialien aus dem Nachlass von Inge Aicher-Scholl, wie sie später hieß,
       im Institut für Zeitgeschichte München einer familiären Zugangskontrolle.
       
       In Westdeutschland hielt man noch in den sechziger Jahren – trotz Inge
       Scholls unermüdlichem Einsatz – die Mitglieder der Weißen Rose für
       unbedarfte Schwärmer. Es überwog die Ansicht, dass sie eines mit Sicherheit
       nicht waren: Vorbilder. In Ostdeutschland verlief die Anerkennung
       wesentlich schneller, sie war aber mit einer Mythenbildung eigener Art
       verbunden: Dort erkor man Hans und Sophie zu antifaschistischen
       Sozialisten, deren Schicksal Thema im Schulunterricht war.
       
       Bereits 1949, noch vor Gründung der Deutschen Demokratischen Republik,
       erhielt im sächsischen Freiberg auf Beschluss der
       Stadtverordnetenversammlung die humanistische Lateinschule den Namen
       „Geschwister-Scholl-Gymnasium“. Diese Vorreiterrolle war der DDR nicht zu
       nehmen, aber in der Quantität übertraf der Westen den Osten bald bei
       Weitem: Hunderte von Institutionen – von Kindertagesstätten, Schulen, einem
       EU-Parlamentsgebäude in Brüssel bis zur Seniorenparkanlage – schmücken sich
       mit Sophie Scholls Namen.
       
       Wie sie zur National-Ikone, dem Gesicht eines besseren Deutschland wurde,
       lässt sich an den Briefmarken der beiden deutschen Staaten ablesen. [2][Die
       Deutsche Post der DDR veröffentlichte 1961 das erste Wertzeichen zu ihren
       Ehren.] Die 25(+10)-Pfennig-Marke zeigt vor blauem Hintergrund Zeichnungen
       der scheu nach unten blickenden, kindlichen Sophie neben einem entschieden
       aufwärts schauenden, angejahrten Hans. Sie scheint 13, er 40 Jahre alt zu
       sein.
       
       Die westdeutsche Bundespost veröffentlichte 1964 zum zwanzigsten Jahrestag
       des Attentats gegen Hitler einen Briefmarkenblock mit acht
       Widerstandskämpfern. Vor graublauem Hintergrund versammelte man dunkle
       Zeichnungen von drei Militärs (Beck, Moltke, Stauffenberg), zwei
       Kirchenvertretern (Bonhoeffer, Delp) und zwei Politikern (Goerdeler,
       Leuschner). Auch eine Frau sollte geehrt werden.
       
       Man wählte aber keine der Hingerichteten des Attentats wie Ehrengard
       Frank-Schultz, Elisabeth Charlotte Gloeden oder Elisabeth Kuznitzky,
       sondern Sophie Scholl, die ein Jahr und fünf Monate vor dem 20. Juli 1944
       ermordet worden war. Als Vorlage für ihr realistisches Porträt wurde ein
       Passfoto von 1942 genommen.
       
       Später, im Jahr 1991, brachte die Bundespost eine Marke mit einem
       Einzelporträt Sophie Scholls heraus. Die Blaustiftzeichnung veränderte die
       Fotovorlage von 1942. Der schmalere Mund ist fest geschlossen, der Kopf
       selbstbewusst leicht angehoben. Auf dem Foto wirkt Sophie eher depressiv,
       auf der Marke offensiv. Wer diese Porträtzeichnung sah, sollte in ihr
       sofort die Widerständlerin erkennen. Sieht es auf der DDR-Marke von 1961 so
       aus, als spiele Sophie noch mit Puppen, hat sie in der BRD-Version von 1991
       bereits entschlossen die Tat vor Augen – oder hinter sich.
       
       Drei Spielfilme haben das Bild der Widerstandsgruppe in der breiten
       Öffentlichkeit enorm beeinflusst: „Die weiße Rose“ von Michael Verhoeven
       (1982), „Fünf letzte Tage“ von Percy Adlon (1982) und „Sophie Scholl – Die
       letzten Tage“ von Marc Rothemund (2005). Alle rücken die junge Studentin in
       den Mittelpunkt. Sie erscheint als die zentrale, tragische Figur der
       Münchner Revolte.
       
       Dieses unzutreffende Bild ist so dominant, dass 2019 Bundespräsident
       Frank-Walter Steinmeier am Gedenktag des 20. Juli 1944 an das „Schicksal
       der Gruppe um Sophie Scholl“ erinnerte. Das widerspricht klar den
       geschichtlichen Tatsachen: Die treibende Kraft, der kreative Kopf des
       Münchner Widerstands, war eindeutig Hans Scholl.
       
       Die fälschlicherweise hervorgehobene Rolle Sophie Scholls ist auch in der
       bildnerischen Erinnerungskultur präsent: Seit 2003 wird in der Gedenkstätte
       bedeutender Deutscher, der Walhalla bei Regensburg, aus dem Münchner Kreis
       allein Sophie Scholl [3][mit einer Marmorbüste geehrt]. Nur von ihr gibt es
       seit 2005 zudem – neben einer abstrakten Gruppe – eine personalisierte
       Bronzebüste im Lichthof der Münchner Universität, durch den die Flugblätter
       flatterten.
       
       Im Verlangen nach Anekdoten wurden im Laufe der Jahre Legenden um Sophie
       gerankt. Die dauerhaftesten sind: Sophie habe sich für ihre jüdische
       Klassenkameradin Luise Nathan vehement eingesetzt. Sie sei im Herbst 1937
       von der Gestapo verhaftet worden. Als Pazifistin habe sie sich schon früh
       gegen den Nationalsozialismus gewandt, sei Verfasserin der Flugblätter und
       die zentrale Gestalt der Weißen Rose.
       
       Keine dieser erzählerischen Ausschmückungen ist haltbar. Luise Nathans
       Tochter berichtet, ihre Mutter habe stets bestritten, näheren Kontakt zur
       nazibegeisterten Sophie gehabt zu haben. Sophies Schwester Elisabeth
       versichert, lediglich die Geschwister Werner und Inge seien wegen
       „bündischer Umtriebe“ zum Verhör nach Stuttgart abtransportiert worden; das
       sagt auch Sophie im Gestapo-Protokoll.
       
       Die Mitglieder der Weißen Rose waren keine Pazifisten. Professor Huber war
       so sehr vom Militär begeistert, dass er sich trotz gravierender Behinderung
       mehrfach – vergeblich – freiwillig meldete, um Soldat zu sein. Sophie
       lehnte wohl den Krieg, nicht aber Gewalt ab: Sie forderte, die Franzosen
       sollten Paris bis zum letzten Schuss verteidigen, da es um die Ehre gehe;
       sie begrüßte die Gewalt der SS in Amsterdam, weil dadurch die Fronten
       geklärt würden, und sie selbst wäre bereit gewesen, Hitler zu erschießen.
       
       Sie stimmte mit Hans Scholl und Alexander Schmorell überein, die in den
       Flugblättern formulierten, die braune Horde Hitlers müsse angegriffen und
       ausgerottet werden. Im Dezember 1942 schrieb Hans, man müsse gegen die
       ausgebrochenen „wilden Tiere“ zur Waffe greifen, und bei den nächtlichen
       Graffitiaktionen hatte er eine geladene Armeepistole dabei.
       
       Sophie war also weder Pazifistin, noch hat sie sich früh gegen den
       Nationalsozialismus eingesetzt. Im Gegenteil, sie war viele Jahre ein
       fanatisches Hitlermädchen. Klassenkameradinnen beschrieben die 16-Jährige
       als gefürchtete „150-prozentige Anhängerin des Nazi-Regimes“. Sie blieb
       freiwillig über das achtzehnte Lebensjahr hinaus Mitglied im BDM, besuchte
       weiterhin regelmäßig Heimabende und ermunterte noch 1941 – ein Jahr nach
       ihrem Abitur – eine Freundin, es ihr gleichzutun.
       
       Sophie Scholls Umdenken begann, als sie 1941/42 ein halbes Jahr lang in
       einem Kinderhort in Blumberg im Schwarzwald einen „Kriegshilfsdienst“
       ableisten musste. Der Ort war ein äußerst konfliktträchtiger sozialer
       Brennpunkt. Seit Mitte der dreißiger Jahre wollte die
       nationalsozialistische Autarkie- und Rüstungspolitik – ohne Rücksicht auf
       Anwohner und Natur – aus dem landwirtschaftlich geprägten Blumberg eine
       Bergarbeiterstadt machen.
       
       Zunächst setzte man auf Freiwilligkeit, aber bald wurden Verschleppte,
       Kriegsgefangene und Straftäter genötigt, ohne dass es eine ausreichende
       Infrastruktur für sie und ihre Familien gab. 1941 begann der Abstieg, da
       durch die Kriegseroberungen effizientere Abbaugebiete zur Verfügung
       standen. Im April 1942 wurde die Erzförderung eingestellt.
       
       Sophie Scholl versah ihren Dienst in der letzten Phase des Niedergangs. Es
       ist kaum vorstellbar, dass sie die sozialen Nöte nicht wahrgenommen hat.
       Sie erhielt täglich Anschauungsunterricht über das Versagen und die
       Brutalität der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik. Das tilgte
       gewiss die Sympathien, die sie noch für die Idee des „Dritten Reiches“
       hegte, sehr wahrscheinlich verstärkte es sogar ihre Ablehnung des Regimes.
       
       Texte dazu sind spärlich, aber ihr Handeln spricht eine deutliche Sprache:
       Zwei Monate nach Beendigung ihres Kriegshilfsdienstes lieh sie sich von
       ihrem Freund Fritz Hartnagel 1.000 Reichsmark „für einen guten Zweck“ und
       bat ihn um einen Bezugsschein für einen Vervielfältigungsapparat.
       Vermutlich kaufte sie mit dem Geld eine Kopiermaschine und Druck- und
       Versandmaterialien.
       
       Es liegt nahe, die Zeit in Blumberg als einen wichtigen Wendepunkt ihres
       Denkens zu sehen. Da begann sich ihr Widerwillen in Widerhandeln zu
       wandeln, und das nationalsozialistische Hitlermädel Sophie Scholl wurde zur
       antitotalitaristischen Freiheitskämpferin.
       
       Ihr Bruder Hans spielte dabei die entscheidende Rolle. Auch er war zunächst
       ein nationalsozialistischer Fahnenträger, der ohne Weiteres ein SS-Mann
       hätte werden können. Doch die staatliche Verfolgung aufgrund seiner Arbeit
       mit Jungen außerhalb der Hitlerjugend und seine lange homosexuelle „große
       Liebe“ zu einem Jugendlichen seiner Gruppe entfremdeten ihn vom
       Nationalsozialismus.
       
       In Frankreich und Russland erlebte er als Soldat und Medizinstudent die
       Gräuel des Kriegs. Mit seinem engsten und „einzigen Freund“ Alexander
       Schmorell schrieb er Mitte 1942 die ersten vier Flugblätter der Weißen Rose
       und rief zum Widerstand auf.
       
       Von den ersten vier Flugblättern erfuhr Sophie erst im Nachhinein. 65
       Prozent der sechs Flugschriften sind von Hans Scholl, die übrigen Teile
       verfassten Alexander Schmorell und Kurt Huber. Ohne Hans Scholl hätte es
       die Weiße Rose nicht gegeben, aber ohne Sophie nicht die Ausweitung der
       Flugblattaktionen über München hinaus Anfang 1943. Da war sie die
       Organisatorin des Widerstands.
       
       Die Legendengirlanden um Sophie sind Ausdruck des Wunsches, die
       Besonderheit ihres Handelns noch zu steigern – als ob nicht das, was die
       junge Frau zuletzt tat, genügte. Der Mythos verschleierte die Wirklichkeit,
       durch die Entfernung von der Realität wurde die Person zur entrückten
       Heiligen.
       
       Diese Darstellung stillte eine latente Sehnsucht, denn Deutschland bestand
       ganz überwiegend aus Mitwissern, Mitläufern und Mittätern des Naziregimes,
       und wer hätte im Nachhinein nicht gerne eine Schwester wie Sophie in der
       Familie gehabt? Der Heroismus um sie, den „Ausnahmemenschen“, befreite von
       der Frage, ob man selber, ob Eltern oder Großeltern, nicht auch anders
       hätten handeln können. Bei der Überbewertung Sophie Scholls für den
       Widerstand war sicher auch das Bedürfnis eines Geschlechterproporzes
       wichtig.
       
       Es gab durchaus Kritik an diesem öffentlichen Erinnerungskult. 1968
       veröffentlichte Christian Petry die erste wissenschaftliche Monografie zur
       Weißen Rose. Seine auf den damals bekannten Fakten beruhende,
       historisierende Untersuchung wurde vehement bekämpft. Die Familie fürchtete
       eine Enteignung der privaten Geschichte durch „unfähige Historiker“ und
       fühlte sich aufgrund der Blutsbande moralisch im Recht, das Erbe der Weißen
       Rose allein sachgemäß zu wahren. Doch zum ersten Mal schien es, als könnte
       sie das Monopol der Interpretation verlieren.
       
       Als Sönke Zankel die Methode und Ergebnisse von Petry aufgriff und 2005
       seine umfangreiche Dissertation vorlegte – zum
       „[Hans]Scholl-Schmorell-Kreis“, wie er korrekt formulierte – waren die
       Reaktionen ganz überwiegend negativ: „absurd“, „abenteuerlich“, „bizarr“
       hieß es, man glaubte, es werde ein „Kreuzzug“ gegen die Widerstandsgruppe
       geführt. Kaum ein Rezensent war bereit, Zankels radikaler Entmythisierung
       der Gruppe zu folgen.
       
       Das hat sich geändert – auch aufgrund der exzellenten Biografie von Barbara
       Beuys über Sophie Scholl. Sie wäre ohne den Nachlass Inge Scholls im
       Institut für Zeitgeschichte, aber auch ohne die Forschungsergebnisse
       Zankels nicht möglich gewesen. Diese Arbeiten machen deutlich, dass nach
       einer historisch-kritischen Analyse, nach einer Trennung zwischen Fakt und
       Fiktion, Sophie Scholl erst als selbstbewusste Frau ein glaubwürdiges
       Vorbild ist.
       
       Trotzdem ist in der Öffentlichkeit nach wie vor das von Inge Scholl in die
       Welt gesetzte Bild der Konsensheiligen Sophie Scholl vorherrschend: das der
       emanzipierten jungen Frau, an der nichts Unvorteilhaftes, Anstößiges,
       Widersprüchliches war. So geglättet dient sie als Projektionsfläche für
       sehr viele, von Carola Rackete, die im Mittelmeer Flüchtlinge rettete und
       Sophie heute bei der „Antifa“ sieht, bis hin zu Jana aus Kassel, die gegen
       Coronamaßnahmen demonstrierte und sie bei den „Querdenkern“ wähnt; beide
       beriefen sich ausdrücklich auf Sophie Scholl.
       
       Die bis heute immer wieder gedruckten Fotos der androgyn-burschikosen Maid
       mit dem kessen asymmetrischen Kurzhaarschnitt verstärken den Eindruck einer
       jugendlichen Opposition. Die graue 80-Cent-Briefmarke der Deutschen Post
       von 2021 übernimmt das burschikose Profilfoto von 1938, das auch der
       Gedenkmünze zugrunde liegt. Dazu ist in Kleinstschrift ein Zitat von
       Sophies Zellenkameradin Else Gebel gesetzt.
       
       Nach ihr soll die Mitgefangene am 22. Februar 1943 gesagt haben: „So ein
       herrlicher sonniger Tag, und ich muss gehen. […] Was liegt an meinem Tod,
       wenn durch unser Handeln tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt
       werden.“ Bezeichnenderweise ist auf dem Wertzeichen das
       brutal-aussichtslose „muss“ durch das gefälligere „soll“ ersetzt. Und den
       abgebildeten provozierenden Bubikopf trug Sophie schon Jahre vor dem
       Widerstand nicht mehr. Aber in ihrer strahlend-fröhlichen Jugendlichkeit
       ist sie viel einfacher zu verehren.
       
       Wer die Widerstandsfrau sehen will, muss die Aufnahmen aus den Jahren
       1942/43 betrachten: da ist sie rundlicher, trägt ihr Haar streng
       gescheitelt, fast schulterlang, blickt ernst und wirkt bedrückt – ihre
       Unbekümmertheit ist dahin, aber ihre Nachdenklichkeit und Entschlossenheit
       sind gewachsen.
       
       Die Tagebucheintragungen und Briefe Sophie Scholls zeigen sie nicht als
       Fiktion, sondern in ihrer ganzen Ambivalenz als verletzbaren und
       verletzenden Menschen: mit- und zartfühlend, spirituell, um Glauben und
       Liebe ringend, unsicher, zweifelnd, aber auch willkürlich, unausstehlich,
       gehemmt, „schwankend zwischen Lust und Traurigkeit“, wie sie notierte.
       
       Eines ihrer Tagebuchhefte begann sie mit einem Gedicht Matthias Claudius’
       voller überschäumender Lebenslust: „Heute will ich fröhlich, fröhlich sein,
       / keine Weis und keine Sitte hören; / will mich wälzen, und für Freude
       schrein, / und der König soll mir das nicht wehren.“ Auf die letzte Seite
       desselben Diariums notierte sie ein Jesuswort über Lebenstraurigkeit und
       Lebensmut, das die entgegengesetzte Grenze ihrer Emotionsskala markierte:
       „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt
       überwunden. Joh. 16,33“.
       
       Sophie Scholl ist aufgrund ihrer letzten Taten, nicht ihres kurzen Lebens,
       eine außergewöhnliche, bewundernswerte Frau. Hoch zu achten ist, dass sie
       nach Jahren des Irrwegs im November 1942 fragt, ob sie bisher geträumt hat,
       und erkennt: „Manchmal vielleicht. Aber ich glaube, ich bin aufgewacht.“
       Sie konnte umkehren, ihren Sinn ändern, eine Denkwende vollziehen –
       Fähigkeiten, die auch heute dringend gebraucht werden. Sie handelte nach
       ihrer Überzeugung und ging trotz der Gefahr in den Widerstand.
       
       In den letzten Monaten ihres Lebens war Sophie Scholl eine Kämpferin für
       Mitmenschlichkeit, Glaubensmut und Zivilcourage. In diesem Sinne ist sie
       ein Vor- und Leitbild, aber sie eignet sich nicht als Kult- und
       Heiligenbild. Denn sie war mehr als das.
       
       Robert M. Zoske (68) ist evangelischer Theologe und Historiker. Bis 2017
       arbeitete er als Pastor in Norddeutschland. 2014wurde er mit einer Arbeit
       über Hans Scholl promoviert. 2018 erschien die Biografie „Flamme sein! Hans
       Scholl und die Weiße Rose“ (C.H.Beck, München), zwei Jahre später „Sophie
       Scholl: Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen“, Propyläen,
       Berlin.
       
       2 May 2021
       
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 (DIR) [1] https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Briefmarken/2020/2020-08-12-PM14-Muenze-Sophie-Scholl.html
 (DIR) [2] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Geschwister_Scholl_stamp,_GDR,_1961.jpg
 (DIR) [3] https://www.spiegel.de/politik/weisse-rose-in-walhalla-a-0f086b87-0002-0001-0000-000018074015
       
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