# taz.de -- Feminismus bei grüner K-Frage: Grüne, nehmt Habeck!
       
       > Muss man aus feministischer Sicht zwangsläufig für Annalena Baerbock als
       > grüne Kanzlerkandidatin sein? Drei Gründe, warum das nicht der Fall ist.
       
 (IMG) Bild: Auffällig viele männliche Kommentatoren und politische Beobachter sind für Baerbock
       
       So langsam wird es wunderlich. Von der „heute-show“ und Jan Böhmermann über
       die Süddeutsche und den Spiegel bis hin zu zahlreichen Tweets aus dem
       politischen Milieu ist man sich einig: [1][Annalena Baerbock wird die erste
       grüne Kanzlerkandidatin]. Sie liegt in vielen Umfragen beinahe gleichauf
       mit ihrem Doppelspitzenpartner Robert Habeck. Sie hat eine [2][beispiellose
       Aufholjagd] hingelegt, ist Liebling ihrer Partei und hat den Willen zur
       Macht. Muss ich als Feministin also zwangsläufig für Baerbock und gegen
       Habeck sein? Meine Antwort lautet Nein – aus drei Gründen.
       
       Erstens: Frauen vorzuziehen, weil sie Frauen sind, kann aus feministischer
       Sicht kontraproduktiv sein, wenn ihnen die Qualifikation fehlt. Es wäre so,
       als würde man eine Chirurgin kurz nach ihrer Fachärztinausbildung gleich
       zur Chefärztin befördern oder eine junge Pilotin zur Lufthansa-Chefin. Die
       Wahrscheinlichkeit, dass es schiefgeht, ist überproportional groß.
       Diejenigen, die Frauen ohnehin weniger zutrauen, können sich im
       wahrscheinlichen Fall eines Scheiterns bestätigt fühlen. Bei
       Frauenförderung geht es darum, dass Bewerberinnen bei gleicher oder nahezu
       gleicher Qualifikation bevorzugt werden. Die Frage ist also, ob Habeck und
       Baerbock gleich gut qualifiziert sind. In der Politik zählen vor allem
       Wahlerfolge, Regierungserfahrung und die Fähigkeit, außerhalb der eigenen
       Kernwähler*innenschaft Stimmen holen zu können.
       
       Habeck hat in Schleswig-Holstein Wahlen gewonnen, seine Partei zweimal in
       eine Koalition geführt und sechs Jahre lang erfolgreich als Minister und
       stellvertretender Ministerpräsident regiert. Die Umfragen zeigen seit
       Langem, dass seine Bekanntheits- und Beliebtheitswerte das grüne Milieu
       übersteigen. Darüber hinaus hat er auch noch in Philosophie promoviert,
       vier Kinder großgezogen und 16 Bücher geschrieben – vier davon zu
       politischen Themen.
       
       Baerbock hat keine Wahlerfolge vorzuweisen, noch nie regiert und ihre
       Umfragewerte ragen bisher nur wenig oder gar nicht über das derzeitige
       grüne Wählerpotenzial hinaus. Sie ist seit 2013 Bundestagsabgeordnete. Ihre
       oft hervorgehobene internationale Erfahrung umfasst ein einjähriges
       Masterprogramm für Völkerrecht an der London School of Economics und ihre
       Tätigkeit als Büroleiterin für eine EU-Abgeordnete. Sie hat ihre Promotion
       abgebrochen und erzieht zwei kleine Kinder. Ihre Sach- und Detailkenntnisse
       sind oft besser als bei Habeck, sie kann zu jeder Zeit zu jedem Thema die
       richtige Position aus dem Hut zaubern. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass
       man im Kanzler*innenamt zwar gut informiert sein sollte, für Sach- und
       Detailfragen indes Fachleute heranzieht und natürlich zuständige
       Ministerien hat. Gefragt ist der Blick aufs große Ganze und darauf
       basierend Richtlinien zu bestimmen und Entscheidungen zu treffen. Kurzum:
       Habeck ist der qualifiziertere Bewerber. Es ist kein Verrat am Feminismus,
       nicht von einer Frau regiert werden zu wollen, die so etwas noch nie
       gemacht hat.
       
       Zweitens: Parität ist gerade dort unverzichtbar, wo die Luft dünn wird –
       ganz oben. Ausgerechnet in dieser Hinsicht haben wir in Deutschland jedoch
       wenig Anlass zur Klage. Dank Angela Merkel wissen viele Kinder und
       Jugendliche gar nicht mehr, wie die männliche Form von Kanzlerin heißt
       (Kanzlerinmann?). Die ganz große Katastrophe wäre es sicher nicht, wenn es
       nach 16 Jahren wieder einen Kanzler gäbe. Anders hingegen sieht es in den
       übrigen Ressorts aus. Deutschland hatte noch nie eine Finanzministerin,
       eine Innenministerin oder eine Außenministerin. Das Finanzministerium
       interessiert Baerbock nicht, da sie es nach eigenem Bekunden nicht so mit
       Zahlen hat. Als Innenministerin könnte sie beispielsweise Moria evakuieren
       und Familiennachzug erlauben. Am meisten aber entspricht das Auswärtige Amt
       ihren Interessen und Ambitionen; eine feministische und an Klimazielen
       orientierte Außenpolitik wäre eine echte Neuerung. Doch eroberten die
       Grünen das Kanzleramt, ginge dieses Ressort normalerweise an den
       Juniorpartner.
       
       Drittens: Es gibt einen Punkt, der mich stutzig gemacht. Warum sind so
       auffällig viele männliche Kommentatoren und politische Beobachter für
       Baerbock? Ist sie tatsächlich so überzeugend? Oder liegt es daran, dass sie
       mehr von dem liefert, was man gewohnt ist im politischen Betrieb, nur eben
       jünger, frischer, sympathischer und natürlich weiblicher?
       
       Der Politikertyp Habeck ist eine bisher kaum bekannte Spezies, nicht nur
       wegen seiner ungewöhnlichen Sicht auf Politik und Gesellschaft. Er ist auch
       eine ganz andere Art Mann als die Fischers, Münteferings, Schröders mit
       ihrem Imponiergehabe und ihren ständig jünger werdenden
       Lebensabschnittbegleiterinnen. Spätestens seit dem [3][Interview mit seiner
       Frau, der Schriftstellerin Andrea Paluch, in der taz] ist deutlich
       geworden, dass Habeck zu jenen grünen Männern gehört, die Feminismus leben
       und auch politisch vertreten können. Das ist ein unbequemer Gedanke für
       viele, womöglich auch für den einen oder anderen, der sich für Baerbock
       ausspricht.
       
       Über sein Verständnis von Macht hat Habeck einmal gesagt, dass es nicht
       allein darum ginge, selbst voranzukommen, sondern aus allem das Beste
       herauszuholen und dabei auch mal anderen den Vortritt zu überlassen. Ohne
       Zweifel würde er den Weg für Baerbock sofort frei machen, wenn sie es will.
       Es wäre dennoch ein Fehler.
       
       Bei den Wahlen im September geht es dieses Mal um viel. Der Klimawandel ist
       in einer dramatischen Phase. Gleichzeitig besteht durch die Schwäche der
       CDU/CSU erstmals eine Chance für die Grünen, eine Bundesregierung zu führen
       und den Takt vorzugeben – für Klimaschutz, sozialökologischen Umbau und
       natürlich auch für Gendergerechtigkeit. Es wird knapp, sehr wahrscheinlich
       hängt es von wenigen Prozentpunkten ab. Wenn die Grünen schlau sind,
       entscheiden sie sich für Habeck.
       
       In einer früheren Version wurde Reinhard Bütikofer eine jüngere Frau an die
       Seite geschrieben. Das stimmt nicht, seine Frau werde einem seiner Tweets
       zufolge „seit 1999 jedes Jahr mit mir ein Jahr älter“. Sie ist in seinem
       Alter. Wir bitten um Entschuldigung.
       
       13 Apr 2021
       
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