# taz.de -- Politische Debattenkultur: Canceln und abkanzeln
       
       > Wenn eine Einzelne für die Widersprüche einer ganzen Gesellschaft
       > herhalten muss: Zwischenruf im Streit über die muslimische Feministin
       > Kübra Gümüşay.
       
 (IMG) Bild: Die Aktivistin und politische Autorin Kübra Gümüşay 2017 in Köln
       
       Ein Wesenszug wohlwollender Menschen ist es, anderen Fehltritte nachzusehen
       und darauf zu bauen, dass sie aus ihnen lernen können. Was passieren kann,
       wenn einem das Wohlwollen abhandenkommt, führt [1][Ronya Othmann in ihrer
       neuen FAS-Kolumne] vor Augen, in der sie hart mit Kübra Gümüşay ins Gericht
       geht. Hier streiten sich nicht einfach nur zwei Feminist*innen
       unterschiedlicher Strömungen. Der Streit steht auch für eine ungute Tendenz
       in der politischen Debattenkultur, inhaltliche Kontroversen zunehmend
       auf eine persönliche Ebene zu bringen.
       
       Anlass ist die Übersetzung des Gedichts [2][„The Hill We Climb“ von Amanda
       Gorman]. Gümüşay übersetzte es aus dem Amerikanischen gemeinsam mit Hadija
       Haruna-Oelker und Uda Strätling ins Deutsche. Doch geht es Othmann nicht
       um die Qualität der Übersetzung. Sie wundert sich in ihrer Kolumne mit dem
       Titel „Wer ist Kübra Gümüşay?“, dass in den Debatten über die Übersetzung
       nie gefragt worden wäre, wer diese Aktivistin und politische Autorin
       eigentlich sei, die sich Antirassismus und Feminismus auf die Fahnen
       schreibe. Othmann, Tochter einer deutschen Mutter und eines aus Syrien
       stammenden Vaters, der als staatenloser jesidischer Kurde nach Deutschland
       floh, will wissen, wofür Gümüşay „wirklich“ stehe.
       
       Othmann, wie Gümüşay Autorin und ehemalige taz-Kolumnistin, führt dann eine
       Reihe eklatanter Fehltritte Gümüşays an. Darunter fällt die Verwendung des
       Begriffs [3][„Haustürke“ in einer ihrer taz-Kolumnen] 2013 und eine
       Leseempfehlung für den islamistischen Schriftsteller Necip Fāzıl Kısakürek
       in ihrem Buch „Sprache und Sein“. Weiter kritisiert sie Gümüşays
       weitreichende Gesprächsbereitschaft bis hin zu islamistischen
       Organisationen wie dem Islamischen Zentrum Hamburg, das als Europazentrale
       des iranischen Regimes gilt. Außerdem wirft sie Gümüşay mangelnde Distanz
       zu Erdoğan vor.
       
       Es sind starke Beispiele, sie bieten Diskussionsstoff, gewiss. Neu sind sie
       aber nicht. Als Kopftuch tragende Feministin steht Gümüşay, 32, seit Jahren
       im Zentrum heftiger Auseinandersetzungen, immer wieder wurde sie als
       gläubige Muslimin, aufgewachsen in einem konservativen Elternhaus, selbst
       Gegenstand der Debatte.
       
       Was der Tonfall von Othmanns Text suggeriert: Gümüşay gebe vor, jemand zu
       sein, die sie nicht ist.
       
       Dabei bietet Gümüşay keinen Grund für Zweifel an ihrer Lernfähigkeit: Zu
       den genannten Fällen hat sie sich [4][auf ihrer Website bereits geäußert].
       Von dem Schriftsteller Necip Fāzıl Kısakürek habe sie nicht gewusst, dass
       er alevitenfeindlich und antisemitisch sei. Auf diesen Umstand hingewiesen,
       strich sie den Namen aus der zweiten Auflage ihres Buches. In Bezug auf den
       Vorwurf der Nähe zu Erdoğan und zur AKP führt Gümüşay zahlreiche ihrer
       kritischen Artikel und Tweets an, zum Beispiel gegen Erdoğans
       frauenfeindliche Rhetorik. Hinsichtlich des Auftritts im Islamischen
       Zentrum Hamburg verweist Gümüşay darauf, dass sie dort einmalig auf einem
       Podium saß, auf einer Dialogveranstaltung mehrerer islamischer Hamburger
       Gemeinden, genauso wie zahlreiche andere Politiker*innen und
       Wissenschaftler*innen. Auch ist die Stadt Hamburg per Staatsvertrag
       mit dem Islamischen Zentrum verbunden.
       
       All diese Erklärungen standen auch schon vor Othmanns Kolumne ausführlich
       auf Gümüşays Website. Die Vorfälle gab es also – doch Gümüşay hat sie
       eingeordnet oder sich für sie öffentlich entschuldigt und sich korrigiert.
       Das scheint für Othmann aber keine Rolle zu spielen.
       
       Will Othmann ihre Leser*innen glauben machen, dass es noch mehr als
       diese einzelnen Beispiele gibt? Sie führt jedenfalls nicht explizit aus,
       welche Haltung sie aus den genannten Beispielen ableitet, die sie zum
       Anlass nimmt, Zweifel an der Glaubwürdigkeit Gümüşays als Feministin und
       Antirassistin zu säen.
       
       „Doch es ist falsch, wenn nur nach Identität gefragt wird, nicht nach
       Haltung“, schreibt Othmann. Doch sie kritisiert letztlich nicht Gümüşays
       Haltung, sondern prangert sie als Person an. Die Geste des Textes ist die:
       Hier fährt jemand hinter verdunkelten Scheiben mit Sonnenbrille auf der
       Überholspur einer Diskursautobahn. Die Straße ist das Feuilleton der
       Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, eines Flaggschiffs der
       konservativen Presse, das offen ist [5][für Gastbeiträge von Alexander
       Gauland] und das einer vermeintlichen [6][Cancel Culture] das Handwerk
       legen will. Wenn Gümüşay auf dieser Bühne angegriffen wird, dann auch als
       Protagonistin eines intersektionalen Aktivismus, der gerne unter dem Label
       Identitätspolitik abgetan wird und den man mit seinem Anliegen eines
       Empowerments marginalisierter Guppen gar nicht erst verstehen will. Selbst
       wenn es Othmanns Absicht war, von links aufzuklären, bedient sie auf dieser
       Straße vor allem Ressentiments: Zustimmung erhält sie in den
       Kommentarspalten jedenfalls von reaktionärer Seite.
       
       Gümüşay passt aber weder in die linke noch in die konservative Schublade.
       Sie ist eine Feministin mit Kopftuch. Das fordert all jene heraus, die sich
       an Schubladen klammern. Wer Veränderung will, sollte aber auch bereit sein,
       Unordnung zuzulassen. Was unter die Räder kommt, wenn man sich gegenüber
       Widersprüchen verschließt, ist letztlich der Fortschritt. Dann geht es nur
       um Selbstbestätigung.
       
       Was spricht dagegen, Gümüşay in ihren Aussagen ernst zu nehmen, sie an
       ihrem Handeln wie an ihren Äußerungen, ja dem Gesamtwerk zu messen und
       nicht an einzelnen Beispielen, die vor allem Interpretationsspielraum
       lassen?
       
       Trotz aller Kritik sollte man sich wenn schon nicht mit Wohlwollen, dann
       doch mindestens mit interessierter Offenheit begegnen – und ohne Pranger.
       
       15 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wer-ist-kuebra-guemue-ay-17284811.html
 (DIR) [2] https://www.nytimes.com/2021/01/19/books/amanda-gorman-inauguration-hill-we-climb.html
 (DIR) [3] /Kolumne-Das-Tuch/!5068331
 (DIR) [4] http://kubragumusay.com/faq/
 (DIR) [5] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/alexander-gauland-warum-muss-es-populismus-sein-15823206.html
 (DIR) [6] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wie-lgbti-verbaende-ins-linksidentitaere-fahrwasser-abdriften-17246497.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lena Kaiser
       
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