# taz.de -- Geflüchtete auf den Kanarischen Inseln: Ein zweites Lesbos
       
       > Die Überfahrten von Westafrika nach Teneriffa und anderen Inseln im
       > Atlantik nehmen zu. Dort sitzen die Menschen in überfüllten Lagern fest.
       
 (IMG) Bild: Lebensmittelspende mit Corona-Abstand: Außerhalb des Lagers Las Raices am 23. März
       
       Madrid taz | „Ich bin mitten in der Covid-19-Pandemie mit weiteren 23
       Männern in einem Zelt untergebracht“, beschwert sich Saliou am Telefon.
       „Sozialer Abstand? Völlig unmöglich“, fügt er hinzu. Der 27-jährige
       Schuster aus dem westafrikanischen Guinea ist seit einem halben Jahr auf
       der Kanareninsel Teneriffa. Seit zwei Monaten ist er im Lager Las Raices
       nahe der Stadt La Laguna untergebracht.
       
       Las Raices ist mit 1.800 Flüchtlingen die größte [1][Unterkunft auf den
       Kanaren]. Auf Teneriffa gibt es noch zwei weitere kleinere Camps. Insgesamt
       hat die spanische Regierung auf den Inseln sieben Massenunterkünfte
       eingerichtet. „Nachts ist es richtig kalt, für Gesundheitsversorgung musst
       du ewig anstehen, das Essen ist eine Katastrophe“, beschreibt Saliou seinen
       Alltag. Er möchte nur eines: „Auf das spanische Festland oder gar nach
       Frankreich …“ Dort würde er zumindest die Sprache beherrschen. Familie hat
       er, wie viele seiner Leidensgenossen, in Europa keine.
       
       Saliou ist einer der über 23.000 Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr die
       [2][Überfahrt in prekären Booten von Afrika auf die spanischen Inseln] im
       Atlantik geschafft haben. Das sind so viele, wie seit dem Rekordjahr 2006
       nicht mehr. Schuld an der Flüchtlingswelle sind bewaffnete Konflikte in
       Teilen Westafrikas und die Coronapandemie, die eine schwere wirtschaftliche
       Krise zur Folge hatte. So liegt etwa die [3][Tourismusbranche in Marokko]
       darnieder. Auswandern ist oft die einziger Möglichkeit.
       
       Saliou ist die Reise nach Europa „wegen schwerer Probleme“ angetreten.
       Wegen welcher genau, möchte er nicht sagen, ebenso wenig wie seinen
       Nachnamen. „Nur so viel: Ich kann nicht zurück, ohne Gefahr für mein
       Leben“, sagt er dann noch. Drei Monate war er unterwegs, bevor er im
       Senegal eine Möglichkeit für die Überfahrt fand. Dass dies hier so etwas
       wie eine Endstation sein könnte, hatte er nicht erwartet.
       
       ## Sánchez reagiert mit aller Härte
       
       „Alle wollen weg von den Inseln“, erklärt Roberto Mesa, Sprecher der
       Versammlung zur Unterstützung der Migranten, eine Gruppe von mehreren
       Dutzend freiwilligen Helfern, die unter anderem Rechtsbeistand organisieren
       und Sprachunterricht geben. „Viele haben sogar einen Brief von Angehörigen
       irgendwo in Europa dabei, die sich bereit erklären, für sie aufzukommen“,
       fügt Mesa hinzu. Doch es nützt nichts.
       
       Die spanische Koalitionsregierung aus Sozialisten und Linksalternativen
       unter Pedro Sánchez zeigt sich hart. Überfahrten gibt es nur in ganz
       wenigen Ausnahmefällen. Sánchez, der zu Amtsbeginn durch die [4][Aufnahme
       von Flüchtlingen] auf Schiffen für Aufsehen in Europa sorgte, reagiert
       jetzt mit aller Härte. Er befürchtet, dass massenhafte Aufnahmen von
       Menschen der wachsenden extremen Rechten rund um die drittstärkste Partei
       VOX in die Hände spielen könnte.
       
       Las Raices sorgt, seit es Anfang des Winters eingerichtet wurde, für
       Negativschlagzeilen. Die Flüchtlingslager werden von
       Nichtregierungsorganisationen verwaltet, die von der Regierung dafür
       bezahlt werden. Im Falle von Las Raices ist es Accem.
       
       „Accem spart, wo es nur geht“, beschwert sich Mesa. „Nur zwei
       Krankenpfleger für das gesamte Camp, viel zu wenige Anwälte und Psychologen
       …“, zählt er auf. Bilder von undefinierbarer Pampe auf kleinen
       Plastiktabletts machen die Runde in den sozialen Medien. Die Pressestelle
       von Accem bittet freundlich um eine E-Mail mit Fragen – Antworten kommen
       nicht. Abgeordnete und Journalisten bekommen keinen Zugang zum Lager.
       
       Die Menschen dürfen tagsüber das Lager verlassen. „Doch wer mehr als drei
       Nächte wegbleibt, bekommt den Zugangsausweis entzogen“, sagt Mesa. Das
       wiederum heißt, dass die Polizei die Betreffenden aufgreifen und abschieben
       kann. 30 Flüchtlinge haben dennoch beschlossen, aus Protest gegen die
       schlechten Bedingungen direkt außerhalb des Lagers zu campieren. Die
       Versammlung zur Unterstützung der Migranten versorgt sie dreimal am Tag mit
       Essen.
       
       ## Anspannung im Camp
       
       „Die Camps sind keine vorübergehenden Phänomene“, ist sich Mesa sicher.
       Accem habe einen Vertrag über sechs Jahre. Die Enge, die schlechten
       Bedingungen und die Ungewissheit, wie es weitergeht, machen aus dem Lager
       einen Dampfkessel, der jederzeit explodieren kann. Zuletzt kam es Anfang
       April zu einer Massenschlägerei. Die Polizei setzte Knüppel und
       Gummigeschosse ein. Die Folgen: 20 Verletzte und acht Festnahmen.
       
       „Der Polizeieinsatz ist ungeheuerlich und trägt nur dazu bei, ein negatives
       Bild des Konflikts zu zeichnen“, erklärt Estrella Galán, die
       Generaldirektorin der Spanischen Flüchtlingshilfskomission (CEAR),
       anlässlich der Präsentation einer Untersuchung über die Lager auf den
       Kanaren.
       
       CEAR, die direkt mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen
       zusammenarbeitet, beklagt die „unmenschliche Behandlung“. „Die Kanarischen
       Inseln dürfen nicht für diese Inseln mit abschreckenden Maßnahmen stehen
       (…) Das ist kein Migrationsmanagement, das ist Grenzmanagement“, sagt
       Galán. Spanien würde sich zur Schutzmauer für den Rest Europas machen. Die
       Kanaren liefen Gefahr, wie [5][Lampedusa] oder [6][Lesbos], „zu
       Gefängnisinseln“ zu werden.
       
       16 Apr 2021
       
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