# taz.de -- Kunst mit architektonischen Fallstudien: Gelenkstücke der Geschichte
       
       > In seiner Kunst interessiert sich Eiko Grimberg für das Spannungsfeld von
       > Architektur. Zuletzt erschien von ihm ein Fotoband zum Berliner Schloss.
       
 (IMG) Bild: Tierparkgehege mit Kriegstrümmern, der Legende nach Steine des Schlosses
       
       Das Schloss war da, dann war es weg, und nun steht es wieder da. Das ist
       die Kurzfassung der Geschichte. Etwas ausführlicher: Der ehemalige Sitz der
       Hohenzollern stand jahrhundertelang zwischen den beiden Spreearmen in
       Berlins Mitte, bis er im Zweiten Weltkrieg stark zerstört und 1950 in der
       DDR abgerissen wurde. Ihm folgte erst einmal ein Parkplatz und 1973 der
       Palast der Republik, Sitz der Volkskammer der DDR sowie Kultur- und
       Veranstaltungshaus. 2006 wurde auch dieser Palast abgerissen und lange Zeit
       stand ein großes Baugerüst auf dem Schlossplatz, bis vor Kurzem die
       Bauhüllen fielen und im Dezember 2020 das rekonstruierte Schloss als
       [1][Humboldt Forum eröffnete].
       
       Just im selben Monat erschien der Fotoband „Rückschaufehler“ des Künstlers
       Eiko Grimberg. Wahrscheinlich kein Zufall. Denn „Rückschaufehler“ bildet
       die Geschichte des Schlosses ab, und Geschichten, die daran hängen. Und
       zwar nicht als lineare Schlosshistorie, wie sie eben im ersten Absatz
       erzählt wurde, sondern auf eine andere Weise: dezentral, Details und
       Legenden aufspürend und sichtbar machend.
       
       Eiko Grimberg wurde 1971 in Karlsruhe geboren und studierte Fotografie an
       der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Er lebt und arbeitet in
       Berlin. Zehn Jahre hat er an dem Projekt gearbeitet, das nun den Titel
       „Rückschaufehler“ trägt. Dieser Begriff bezeichnet ein Phänomen der
       Kognitionspsychologie, bei dem man meint, man hätte bereits vor dem
       Eintreffen eines Ereignisses dieses kommen gesehen. Eine Verzerrung der
       Erinnerung.
       
       In dem Fotoband reihen sich Bilder von Plätzen, Gebäude- und Gerüstfassaden
       aneinander, die einem, wenn man in den vergangenen Jahren durch Berlins
       Mitte gelaufen ist, vertraut sind. Das Gerüst von Schinkels Bauakademie,
       das Auswärtige Amt im Gebäude der ehemaligen NS-Reichsbank, das
       DDR-Staatsratsgebäude. Zwischen diese bekannten Gebäude schieben sich
       Bilder von Tiergehegen mit Affen und Eisbären, aber auch von Tieren aus
       Metall oder Stein, wie Adler oder eine Säbelzahnkatze. Außerdem:
       Fotografien des im Bau befindlichen Stahlbetonschlosses mit und ohne
       barocke Fassadenverkleidung.
       
       ## Die Trümmerwege
       
       Die Fotografien folgen den „Trümmerwegen“, sie machen sichtbar, welche
       verschiedenen Wege die historische Bausubstanz nach Abriss des Berliner
       Schlosses 1950 genommen hat. Nämlich beispielsweise in den Tierpark. Im
       Affengehege findet man neben den Trümmern Berliner Wohnhäuser auch die
       steinernen Überbleibsel des Hohenzollernschlosses. Diese Information ist in
       einem Kommentarteil, Grimberg nennt ihn Index, zu finden. Jedem seiner
       Bilder hat er Fußnoten zugeordnet, die sich aus Zitaten von
       Stadtplaner*innen, Architekt*innen oder Historiker*innen speisen.
       Unter anderem auch vom Zoologen und Tierparkdirektor Heinrich Dathe, der
       erklärt, man habe die Steine und Trümmer je nach Fellfarbe des Tieres
       ausgewählt, um dieses am besten zur Geltung zu bringen: „So wurden also
       beispielsweise die weißen Eisbären vor schwarzgrauen Granit, die schwarzen
       Baribals vor roten Porphyr und die dunkelbraunen Kamtschatkabären vor
       gelben Granit gestellt.“
       
       Grimberg deckt weitere Beziehungen der Zootiere zum Berliner Stadtraum auf.
       Ein besonders schöner Transvaal-Löwe war Ende des 19. Jahrhunderts ein
       Liebling der Bildhauer und Modell für die vier Löwen am Begas’schen
       Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Das Nationaldenkmal stand auf der Schlossfreiheit,
       direkt am Spreekanal. Heute ist nur noch der gigantische Sockel übrig, auf
       dem die „Einheitswippe“, das Freiheits- und Einheitsdenkmal, entstehen
       soll. Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal wurde 1950 demontiert und die Löwenfiguren
       fanden im Raubtierhaus des Tierparks ihren neuen Platz. Der Architekt
       dieses Raubtierhauses war Heinz Graffunder, derselbe, der einige Jahre
       später den Palast der Republik auf dem Areal des Berliner Schlosses
       entwarf.
       
       Diese komplexen Verwebungen legt Grimberg in „Rückschaufehler“ frei. Dabei
       entwickelt die Montage von Bild und Text eine ganz eigene Erzählweise.
       
       ## Intensive Recherche
       
       Jedes Projekt beginne mit einem Initialinteresse, erzählt Grimberg. „Dann
       folgt eine intensive Recherche, die manchmal Suchtcharakter hat.“ Er selbst
       sei aber kein Wissenschaftler, er könne das gar nicht.
       
       Dabei sind seine Werke so akribisch recherchiert und strukturiert wie eine
       geisteswissenschaftliche Arbeit. Wohl gerade deshalb werden Grimbergs
       Bildstrecken als visuelle Essays bezeichnet. Sie erfordern intensive
       Nachforschung, Bibliotheks- und Archivarbeit, dazu das Sammeln und
       Untersuchen von Erzählungen und Stadtlegenden. „Mir haben zig Leute
       erzählt, wo überall Trümmer des Schlosses in Berlin verbaut sein sollen.“
       Oft stimme das zwar nicht, aber diese Geschichten seien es, die Grimberg zu
       Motiven führen, die Bilder ermöglichen.
       
       In vielen seiner Projekte beschäftigt sich Grimberg mit einem konkreten
       Ort. Er nennt diese Orte Gelenkstücke, weil hier historische Ereignisse
       miteinander verkettet sind.
       
       Die Zerstörungen, Wiederaufbauten und erneuten Abrisse, die Spolien und
       Trümmerwege in Berlin zeugen von den Ereignissen des vergangenen
       Jahrhunderts deutscher Geschichte. Eine Straßenkreuzung in Manhattan hat
       sich dafür überraschend wenig verändert. Eigentlich gar nicht, wie in einer
       anderen Arbeit von Grimberg zu sehen ist. Bis heute kann man deshalb an den
       Gebäuden an der Ecke Wall Street und Broad Street die Spuren einer
       Explosion erkennen. Am 16. September 1920 detonierte ein mit Dynamit und
       Eisenschrott beladener Wagen, tötete 38 Menschen und verletzte mehrere
       Hundert. Nach wie vor ist unklar, ob es sich um einen Unfall oder einen
       Anschlag handelte.
       
       Grimberg reiste 2004 nach New York. Er filmte die von massiven
       Sicherheitsvorkehrungen geschützte Kreuzung und die Menschen, die zur
       Arbeit gingen oder Kaffee kauften. Im Film wird Text eingeblendet, den
       Grimberg aus Berichten der New York Times über die Explosion montiert hat.
       Damals war der Anschlag auf die Twin Towers, nur unweit der Kreuzung,
       gerade einmal drei Jahre her. Durch die spezifische Darstellung der
       Kreuzung und der Spuren dieses historischen Ereignisses spricht der Film
       auch über 9/11. Ein Ort, wie ein Gelenkstück der Geschichte und eine
       Vorgehensweise, die Grimberg „über Bande spielen“ nennt.
       
       Eine weitere Zeitebene wird über den Titel der Arbeit eingeführt, der mit
       [2][„The Years to Come“] in eine Zukunft weist, in der sich die
       Gesellschaft wiederkehrend mit Anschlägen auseinandersetzen muss.
       
       ## Machtvolles in Moskau
       
       In „The Pool“, einer Arbeit von 2017, ist Grimbergs Ausgangspunkt ein Stück
       Land mitten in Moskau. Hier stand ab 1883 die größte orthodoxe Kathedrale
       Russlands, bis sie 1931 zugunsten eines anderen gigantischen Bauvorhabens
       abgerissen wurde. Geplant war ein Palast der Sowjets, höher als der
       Eiffelturm und das Empire State Building. Nach einer Unterbrechung während
       des Krieges wurde das Bauvorhaben nur zögerlich wiederaufgenommen und
       schließlich unter Chruschtschow eingestellt.
       
       Stattdessen eröffnete an der Stelle 1963 ein hochmodernes Schwimmbad, in
       dem die Moskauer Bevölkerung selbst bei minus 40 Grad Celsius schwimmen
       konnte.
       
       Grimberg interessiert besonders die Horizontale des Schwimmbads, das
       zwischen den vertikalen Großbaustellen des Sowjetpalasts und der Kathedrale
       eingequetscht ist. Mit einem Durchmesser von 130 Metern nahm das runde
       Becken die Form des bereits gelegten Fundaments des Palasts auf. Die Arbeit
       „The Pool“ besteht aus einer Digitalproduktion von Fotografien im
       Hochformat, auf denen die Schichtung von historischen Architekturformen der
       Zeitperiode von der ersten bis zur zweiten Kathedrale in einer Durchquerung
       Moskaus zu sehen ist.
       
       Nach dem Ende der Blockkonfrontation 1990 wurde das Schwimmbad abgerissen
       und die Christ-Erlöser-Kathedrale rekonstruiert, in der das Kollektiv Pussy
       Riot 2012 ihr Punkgebet aufführte.
       
       Auch die Geschichte scheint zirkular, rund wie das Schwimmbad. Sie reicht
       von Kathedrale zu Kathedrale. Von Schloss zu Schloss. Oder, wenn man so
       möchte, von Anschlag zu Anschlag.
       
       In Grimbergs Arbeiten werden diese historischen Entwicklungen in der
       Architektur als politische Manifestationen ihrer Zeit erkennbar. Genauso
       wird deutlich, dass Architektur beides ist: Ideologie wie Alltag,
       Geschichtspolitik wie fortwährende Pragmatik. Die Arbeiten nehmen ihren
       Ausgangspunkt an konkreten, mit Bedeutung aufgeladenen Orten, lösen sich
       von ihnen, streifen durch die Stadt und kehren wieder zurück. Die
       Fotografien folgen den Trümmern und Spuren der Geschichte, thematisieren
       Nebenschauplätze wie Hauptbühnen, Tiergehege und Schwimmbäder wie Schlösser
       und Kathedralen. Freigelegt werden die Gelenkstücke der Geschichte.
       
       8 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Humboldt-Forum-in-Berlin-eroeffnet/!5733910
 (DIR) [2] http://www.k-strich.de/de/kunstler/eiko-grimberg/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marlene Militz
       
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