# taz.de -- Irakischer Künstler Kadir Fadhel: Turbulenzen erforschen
       
       > Kadir Fadhel brachte Kunst in Bagdad aus der Galerie auf die Straße.
       > Seine Arbeiten sollen jenseits politischer Vereinnahmung wirken.
       
 (IMG) Bild: Der „Raw Material Generator“ von Michaela Rotsch und Kadir Fadhel in Bagdad
       
       Der Anblick dürfte sich den Teilnehmern einer [1][Demonstration am
       Tahrirplatz in Bagdad] im Dezember vergangenen Jahres eingeprägt haben: Ein
       Mann mit einer Geige läuft durch die Menge und spielt voller Hingabe. Aber
       statt Musik ertönt ein ohrenbetäubender Lärm, denn in seiner rechten Hand
       hält er statt eines Geigenbogens eine Säge. Eine Menge folgt ihm, viele
       filmen, bis er die Geige schließlich mit Gewalt in zwei Teile zersägt und
       auf den Boden schleudert.
       
       Kadir Fadhel, geboren und aufgewachsen in Bagdad, studierte in der Klasse
       des Berliner Künstlers Olaf Nicolai an der Münchner Kunstakademie. Für
       seine Abschlussarbeit „Widerspruch“ wurde er dieses Jahr mit dem
       DAAD-Diplompreis ausgezeichnet. Obwohl er in Deutschland lebt, kehrt er
       immer wieder in seine Heimatstadt zurück, um dort künstlerisch zu arbeiten.
       
       Als eine Frau unter den Demonstrierenden auf dem Tahrirplatz während seiner
       Performance ihn plötzlich beschuldigte, die „Schönheit“ der Demonstration
       zu ruinieren, schlug die Stimmung um. Die Situation drohte zu eskalieren.
       „Ich hatte das Gefühl, einige der Leute hatten es auf meine Säge abgesehen.
       Natürlich hatte ich in diesem Moment Angst. Aber ich bin Künstler, das ist
       mein Land, und ich kann nicht einfach schweigen.“
       
       Mit Geige und Säge als Werkzeuge wollte Fadhel den „Widerspruch“, die
       Ambiguität des umkämpften Platzes in seiner ganzen Dimension zeigen: Die
       Macht der mutigen Masse, die im vergangenen Jahr mit ihren Forderungen nach
       besseren Lebensumständen und gegen Korruption die irakische Regierung
       stürzen konnte. Aber auch die Gewalt, die Hunderten Demonstrierenden das
       Leben kostete.
       
       ## „Zentrum für Turbulenzforschung“
       
       In den kommenden Wochen wird Fadhel wieder nach Bagdad fliegen. Den
       Flüchtlingsstatus in Deutschland zu beantragen lehnt er entschieden ab.
       „Ich bin in beiden Ländern als Künstler tätig, anders wäre das nicht
       möglich.“ Für ein neues Projekt arbeiten er und die bildende Künstlerin
       Michaela Rotsch aus München im Moment daran, für Bagdad eine künstlerische
       Vorstellung von Stadt zu formulieren. Sie werden dazu ein „Zentrum für
       Turbulenzforschung“ eröffnen.
       
       Das genaue Datum steht aufgrund der Schwierigkeiten, ein Visum für Rotsch
       zu bekommen, noch nicht fest. Bewohner*innen und Studierende der
       Universität am Ort werden in einem mobilen Glaskubus in der Innenstadt
       Bilder für Rohstoffe, die ihnen fehlen – oder Elektrizität –
       zusammentragen. Diese sollen dann künstlerisch weiterverarbeitet werden.
       
       Langfristig ist „Turbulenzforschung“ als künstlerisches Projekt gedacht,
       das Bagdad prozesshaft aus ganz unterschiedlichen Richtungen erforschen
       wird. Wie mit Geige und Säge auf dem Tahrirplatz widmen sich Rotsch und
       Fadhel auch hier der wiederkehrenden Frage: Wie kann Kunst in Bagdad
       jenseits der Vereinnahmung durch Politik Situationen neu in den Blick
       nehmen und Handlungsfähigkeit zeigen?
       
       2015 war Fadhel einer der ersten bildenden Künstler, der die Kunst in
       Bagdad aus der Galerie auf die Straße brachte – ein komplexes Anliegen. Wer
       in einer konfliktgeladenen Stadt wie Bagdad in politischen Zusammenhängen
       agiert, wird schnell unter Lebensgefahr zur Zielscheibe. „Früher habe ich
       im Stadtraum viel mehr mit direkter Symbolik und Bildsprache gearbeitet.
       Aber mit den Jahren habe ich in der künstlerischen Konzeption von
       Widerspruch viel mehr meine eigene Stimme gefunden.“
       
       ## Lücke und Umweg
       
       Maßgeblich dafür sei der Austausch mit Michaela Rotsch gewesen. Rotsch war
       2016 mit ihrem partizipativen Stadtraumprojekt zum ersten Mal nach Bagdad
       gekommen. Damals gab es außer einigen wenigen politisch motivierten
       Auftritten keine Kunstaktionen im öffentlichen Stadtraum, erinnern sich die
       beiden. Statt Graffiti waren auf den omnipräsenten Betonelementen,
       sogenannten „T-Walls“, nur Malereien zu sehen, die von US-Kräften zur
       Verschönerung der Stadt in Auftrag gegeben worden waren.
       
       Für Rotsch, die zur Arabeske promovierte, war Bagdad eine Station in ihrem
       Projekt „Diapositiv: Public Collection“, das sie in Europa begonnen hatte.
       Die arabeske Linienführung ist in verschiedenen Kulturtraditionen über das
       Prinzip „Lücke und Umweg“ strukturiert, die in Rotschs Werk eine zentrale
       Rolle spielen. „Wer eine Lücke sieht, sieht immer auch ihre Ränder, ihre
       strukturelle Bedingtheit, und so beginnt ein Verschiebungsprozess des
       Sehens“, erklärt sie.
       
       Eine riesige Lücke ihrer eurozentrisch geprägten Sammlung zu Kunst aus der
       Antike bis zur Gegenwart seien Kunst-Dias aus islamisch geprägten Orten
       gewesen. Diese führte sie nach Bagdad – eine Stadt, die zwar von den
       ältesten Kulturen der Welt zeugt, sich zugleich aber bedingt durch Kriege
       in einer permanenten Überlebensstruktur befindet.
       
       Nach einjähriger Recherche am Ort [2][platzierte Rotsch einen mobilen
       Glaskubus], den „Syntopian Vagabond“, in die Innenstadt Bagdads. Mit 5.000
       Dias, davon 2.000 mit Bildern von irakischer Kunst, konnten
       Bewohner*innen der Stadt daraus ihre eigene Miniatur-Kunstsammlung
       kreieren. „Die Bildstruktur, die aus dieser Aktion entstand, war vollkommen
       anders als das, was ich in Europa gesehen hatte. Das verschob meinen Fokus
       auf neue künstlerische Fragestellungen.“
       
       ## Partizipative Kunst
       
       Oft fühlt Rotsch sich darin missverstanden, dass ihre partizipative Kunst
       auf „Empowerment“ zielen soll. „Ein solches Ziel halte ich gerade als
       jemand, der von außen kommt, für unangemessen. Die irakische Gesellschaft
       ist gebeutelt von der Diktatur, aber die Motivation, etwas zu ändern, kommt
       schon von den Leuten selbst.“
       
       Der Austausch mit Fadhel begann bereits bei der Projektvorbereitung über
       Skype und wurde nach ihrem ersten Aufenthalt in Bagdad intensiver. Um sein
       Kunststudium zu finanzieren, arbeitete er damals in einer Generatorstation,
       in der er Notstrom für die Bewohner*innen des Stadtviertels aktivierte –
       der regelmäßige Strom wird von der Regierung in unbestimmten Intervallen
       abgestellt.
       
       In dieser Zeit merkten sie, dass sie auf unterschiedliche Weise einen
       ähnlichen Ansatz in ihren künstlerischen Arbeiten verfolgen. Es entstanden
       eine Reihe gemeinsamer Projekte zwischen Bagdad und Deutschland, manchmal
       über Monate und die unendlichen Strapazen der Visaregelungen hinweg. „Aber
       nach all den Jahren sind wir immer noch ständig am Verhandeln, wenn es um
       unsere künstlerischen Positionen geht. Wir schürfen uns gegenseitig wund,
       wenn es darum geht, was Kunst in der Gesellschaft sein kann“, sagt Rotsch.
       
       2 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marina Klimchuk
       
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