# taz.de -- Nachruf auf Holocaust-Überlebende: Die Europäerin
       
       > Die litauische Intellektuelle Irena Veisaite ist mit 92 Jahren gestorben.
       > Sie entging den Nazihäschern und überlebte auch den Stalinismus.
       
 (IMG) Bild: Sie konnte nicht hassen: Irena Veisaite
       
       Sie hat das Ghetto von Kaunas überlebt. Und entging den Nazi-Häschern
       versteckt in Vilnius. Die Stalinisten in der Sowjetunion konnten sie nicht
       mundtot machen. Jetzt aber hat ein Virus ihrem Leben ein Ende gesetzt:
       [1][Irena Veisaite, die große Intellektuelle Litauens], ist im Alter von 92
       Jahren verstorben, wie am Freitag bekannt wurde.
       
       Litauen verliert mit Veisaite nicht nur eine Zeitzeugin, die unter zwei
       Diktaturen gelitten hat. Sie galt auch als unbestechliche Europäerin, die
       bis zuletzt aus ihrer mit Büchern gefüllten kleinen Wohnung im Zentrum von
       Vilnius nationalistischen Vorstellungen entgegentrat, für eine europäische
       Einigung stritt und viel für ein gutes Verhältnis Litauens zu Deutschland
       getan hat.
       
       Veisaite entstammt einer intellektuellen Familie aus der Stadt Kaunas,
       einer Gegend, in der Religion keine große Rolle spielt. Ihre erste
       Erfahrung mit einer Diktatur machte sie 1940, als die Sowjetunion ihre
       Heimat okkupierte und fortan Menschen über Nacht verschwanden, deportiert
       nach Sibirien. Im folgenden Jahr besetzte die Wehrmacht Litauen, es
       begannen die Entrechtung, Ghettoisierung und der Massenmord an den Juden,
       dem ihre Mutter früh zum Opfer fiel. „In der Ghetto-Schule habe ich
       Schiller-Balladen gelernt. Das hat mich gerettet. Es zeigte mir, dass nicht
       alle Deutschen so wie Hitler sind“, sagte sie in einem Gespräch mit der
       taz.
       
       ## Aus dem Ghetto gerettet, untergetaucht überlebt
       
       Christlichen Freunden der Familie gelang es, die damals 15-Jährige 1943 aus
       dem Ghetto zu schmuggeln. Bis zu ihrer Befreiung lebte Irena Veisaite
       versteckt bei verschiedenen Familien in Vilnius. Der Einmarsch der Roten
       Armee im Jahr 1944 brachte ihr die Freiheit, aber wirklich frei wurde
       Litauen nicht. Der Holocaust – und damit auch die Kollaboration vieler
       Litauer mit den Nazis – blieb unbesprochen, Berichte darüber waren
       unerwünscht. Schon bald nach dem Abitur eckte die junge Frau bei den
       Stalinisten an. „Ich sollte ihnen als Spitzel dienen“, erzählte sie. Sie
       wich nach Moskau aus, studierte Germanistik und promovierte später über
       Heinrich Heine. Nie habe sie einen Hehl daraus gemacht, Jüdin zu sein,
       sagte sie.
       
       Veisaite hat den Deutschen nicht einfach verziehen, für sie war es
       selbstverständlich, dass die Nazis nicht Deutschland repräsentieren
       konnten. „Wie kann man ein Volk beschuldigen? Das ist lächerlich“, sagte
       sie.
       
       Zurück in Vilnius, beteiligte sich Veisaite an der Verbreitung
       unerwünschter Literatur [2][und war in der Theaterszene tätig]. Mit
       Begeisterung erinnerte sie sich an die Revolution von 1989: „Das war ein
       wunderbares Gefühl.“ Fortan trat sie für die europäische Einigung ein,
       widersprach nationalistischen Rattenfängern und setzte sich für ein enges
       Verhältnis zu Deutschland ein. Sie sagte: „Ich habe nie ein Hassgefühl
       empfunden und nie an Rache gedacht. Ich erinnere mich an kein einziges
       Gesicht von deutschen SS-Männern oder von KGB-Männern. Ich sehe nur ihre
       Stiefel.“
       
       13 Dec 2020
       
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