# taz.de -- Tag 1 der verschäften Corona-Regeln: Wo geht’s denn hier zum Lockdown?
       
       > Das letzte Mal ausgereizt – und darüber hinaus. Ein Bummel durch eine
       > Einkaufsstraße zeigt, wie viele Türen da noch offen stehen
       
 (IMG) Bild: Wie hier am Breitscheidplatz sind die Glühweinbuden dicht. Trotzdem ist oft noch viel Betrieb
       
       Lockdown? Welcher Lockdown? Wer sich am ersten Tag der neuen Coronaregeln
       durch Berlin bewegte, konnte sich diese Frage am Mittwoch zeitweise
       durchaus stellen. Gut, der Glühweinstand, den es mit der Menschentraube
       davor so nie hätte geben dürfen, verschwand tatsächlich. Aber sonst sorgten
       die zahlreichen Ausnahmen vom Schließgebot weiter für viel Bewegung auf den
       Bürgersteigen. Aus dem Straßenbild verschwunden sind vorweg die Schüler,
       die nicht mehr Busse und Haltestellen bevölkern (siehe S. 21).
       
       Exemplarisch dafür soll hier die Haupteinkaufsstraße in Zehlendorf sein,
       der Teltower Damm nördlich der S-Bahn-Station. Der Gemüseladen im Durchgang
       unter der Bahn: geöffnet, genauso wie die drei Imbisse gleich daneben.
       Gut, nachvollziehbar: essen muss der Mensch ja – auch wenn die Leute davor
       besser alle mit Maske (an)stehen würden. Und das große Bekleidungsgeschäft
       daneben ist tatsächlich genauso dicht wie der Juwelier und der Telefonladen
       ein paar Meter weiter.
       
       Aber dann? Auf den nächsten paar hundert Metern nebeneinander und durchweg
       geöffnet: ein Schreibwarenladen, drei Apotheken, zwei Drogeriemärkte, zwei
       Buchläden, zwei Brillenladen, eine Bäckerei, ein Coffeeshop, ein
       Delikatessenladen, zwei Sanitätshäuser, Sparkasse und Bank, ein
       Hörgerätegeschäft, noch ein Bäcker und noch zwei Imbisse. Geschlossen sind
       nur: ein kleines Bekleidungsgeschäft, ein Schuhladen und einer für
       Deko-Artikel. Anders bloß am Straßenende, wo ein Kaufhaus samt zwei kleinen
       Läden daneben dicht ist.
       
       Unterm Strich sind das auf insgesamt 430 Metern 9 geschlossene, aber 25
       geöffnete Geschäfte.
       
       Da stellt sich beispielsweise die Frage: Ja, eine Brille kann kaputtgehen,
       ja, das Hörgerät gleichfalls – aber warum reicht dafür nicht ein Notdienst
       für Reparaturen, so wie es ihn auch in normalen Zeiten etwa bei Apotheken
       gibt? Wieso auch weiter Verkauf, der Leute zusätzlich aus dem Haus und auf
       die Straße bringen kann?
       
       Nein, sagt Senatssprecherin Melanie Reinsch auf taz-Anfrage, da soll es
       keine Überlegungen des Senats gegeben haben, die bundesweit geltenden
       Vorgaben in Richtung von Notdiensten zu ändern. Und etwa nur Supermärkte
       zuzulassen, nicht aber exquisitere Lebensmittelgeschäfte oder bloße
       Süßigkeitenläden wäre aus ihrer Sicht vor Gericht gescheitert.
       
       Unklar bleibt, warum Buchläden aktuell und trotz der Kontaktgefahren als
       lebenswichtige Versorgung eingestuft sind, wenn mutmaßlich im Regal zu
       Hause noch der eine oder andere ungelesene Band steht. Wie sagte doch
       Regierungschef Michael Müller (SPD) jüngst? Es gebe wirklich keinen Grund,
       sich noch am 28. Dezember einen Pullover zu kaufen. Gleiches könnte für
       Bücher gelten.
       
       Geöffnet sind aber nicht nur die Buchläden, bei denen Kultursenator Klaus
       Lederer (Linkspartei) die Ausnahme damit rechtfertigte, sie seien „geistige
       Tankstellen“. Auch die wenig mehr als 200 Meter von der Zehlendorfer
       Einkaufsstraße entfernte öffentliche Bibliothek hat, verkürzt auf 12 bis 16
       statt 19 Uhr, geöffnet. Und das passiert nicht etwa im Notbetrieb wie im
       Frühsommer, mit reinem Abholen vorbestellter Bücher, sondern weiter mit der
       Möglichkeit, zwischen den Regalen zu stöbern. Das allerdings ist offenbar
       noch nicht durchgedrungen: Anders als am Montag, als nach Bekanntwerden des
       Lockdown-Beschlusses mittags gut 20 bis 30 Menschen draußen auf die Öffnung
       warteten, sind es dieses Mal um kurz vor 12 Uhr nur eine Handvoll.
       
       Auf dem Bürgersteig vor den Läden sieht es auch nicht gerade nach höchster
       Alarmstufe aus. Geschätzt jeder und jede Fünfte ist ohne Maske unterwegs,
       wobei Männer dabei in der Mehrheit sind. Theoretisch müssten hier alle eine
       Maske tragen – der Teltower Damm gehört definitiv zu den, wie
       Regierungschef Müller es schon vor drei Wochen allgemein ausdrückte,
       „belebteren Straßen“, für die der Senat Maskenpflicht vorgegeben hat.
       
       Da Spieleläden nicht unter „lebenswichtig“ fallen, hatten sich dort viele
       noch auf den letzten Drücker versorgt. Am späten Dienstagnachmittag
       warteten beispielsweise in der Eberswalder Straße in Prenzlauer Berg vor
       dem Laden mit den Brettspielen bestimmt 20 Menschen geduldig, den Blick
       aufs Smartphone oder die Mütze des Vordermanns gerichtet, bis sie an der
       Reihe waren. Nicht mehr alle dürften es in der letzten Stunde geschafft
       haben, das letzte Geschenk analog zu shoppen.
       
       Im benachbarten Puzzleladen ging es ruhiger zu, nach nur 10 Minuten war man
       drin. Es sei doch auch schön, sagte eine Wartende, wie Corona irgendwie
       alles entschleunige, jetzt könne man mal Schaufenster studieren und hetze
       nicht von einem Laden in den nächsten. Ihre mitwartende Freundin sah das
       anders: „Entschleunigung? Ich hab’s eilig, da ändert auch Corona nichts
       dran.“
       
       Nach Geschäftsschluss gab es am Dienstagabend schließlich noch die letzte
       Chance für dieses Jahr, nochmal legal mit einem frisch gekauften Becher
       Glühwein um die Häuser zu ziehen. Rund um den Helmholtzplatz in Prenzlauer
       Berg standen in der Nähe der zahlreichen Ausschankstellen – die meisten der
       vielen Kneipen und Restaurants hier halten sich mit einem
       Take-away-Schalter über Wasser – ein, öfter zwei, bisweilen auch mehrere
       Menschen zusammen, tranken, rauchten, plauderten. Oft, aber nicht nur über
       Corona.
       
       An manchen Ecken wurde es ein bisschen eng, meist verteilten sich die Leute
       aber recht breitflächig. In den Mülleimern stapelten sich die Pappbecher.
       Ein Wirt hier hatte schon gar keine mehr; er griff entschuldigend auf die
       umweltfreundlichen Recup-Becher zurück, für die ein Euro Pfand erhoben wird
       und die stadtweit zurückgegeben werden können.
       
       Kurz vor zehn Uhr war auch sein Glühweinsamowar leer getrunken. Am Tag
       danach dann Tee ohne Schuss, was laut der seit Mittwoch geltenden
       Coronaverordnung des Senats noch erlaubt wäre? „Nein“, sagte er, „das lohnt
       sich wirklich nicht.“
       
       16 Dec 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Alberti
 (DIR) Anna Klöpper
 (DIR) Bert Schulz
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Lockdown
 (DIR) Glühwein
 (DIR) Michael Müller
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Niederlande
 (DIR) Michael Müller
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Aktuelle Entwicklungen in der Coronakrise: Intensivstationen fast voll belegt
       
       Direkt nach den Festtagen soll es in Deutschland mit dem Impfen losgehen.
       Der französische Präsident hat Corona. Die Intensivstationen melden neue
       Höchststände.
       
 (DIR) Ladenschließungen wegen Corona: Auf ein Neues!
       
       An diesem Mittwoch beginnt der von den Bundesländern und der Kanzlerin
       vereinbarte Corona-Shutdown. Nicht alle Regeln sind bundesweit gleich.
       
 (DIR) Coronamaßnahmen in den Niederlanden: Notbremse vor den Feiertagen
       
       Lange hatten die Niederlande versucht, die Entscheidung aufzuschieben.
       Jetzt kommt der Lockdown doch – und zwar in Rekordtempo am Mittwoch.
       
 (DIR) Senat diskutiert neue Corona-Beschlüsse: Selbst für den Senator zu schwierig
       
       Kultursenator Lederer (Linke) durchschaut Regeln zu
       Corona-Wirtschaftshilfen nicht. Regierungschef Müller (SPD) appelliert,
       Kinder selbst zu betreuen.