# taz.de -- Zur Kulturgeschichte des Mundes: Das Welterschließungsorgan
       
       > Der Mund und seine Bedeckung sind derzeit Dauerthema. Das Kunstmuseum
       > Wolfsburg hat eine Ausstellung zum Thema, darf sie aber gerade nicht
       > öffnen.
       
 (IMG) Bild: Mit „La vie à pleines dents“ zeigt Arman 1960 die Spur von Menschen, die das Leben genießen konnten
       
       Er ist zum locus horribilis geworden, der Mund- und Rachenraum des
       Menschen: ein Ort des Grauens. Zusammen mit dem nicht minder
       unheilbringenden Naseninneren gilt er als hochinfektiöse Körperregion der
       Replikation des Coronavirus. Präventivmedizinisch plausibel also, wenn wir
       derzeit fast nur noch mit Mund-Nasen-Bedeckung unter Menschen dürfen.
       
       Während ideologisierende Gegner der Corona-Maßnahmen das Stück Textil über
       der unteren Gesichtshälfte in die Nähe fundamentalistischer
       Zwangsverschleierung zu rücken versuchen, erkennen
       gesellschaftsphilosophisch versierte Zeitgenoss:innen in der Gesichtsmaske
       ein aktuelles Beispiel für die weitere Entsozialisierung des Menschen. Denn
       dessen physiognomische Individualität wird durch die Bedeckung eines ihres
       wichtigsten Ausdrucksträgers beraubt.
       
       Zeit somit, sich näher dem für die Subjektkonstituierung des Menschen Mund
       zuzuwenden, seiner Polyfunktionalität sowie seiner Rolle in der
       Zivilisation zum sozialen Wesen, in Summe: dem Oralen in seiner ganzen
       Komplexität.
       
       Nach gut zweijähriger Recherche präsentiert das Kunstmuseum Wolfsburg, wohl
       erst mal im deutschsprachigen Raum, anhand von zwölf Motivsträngen seine
       Sondierungen in den Tiefen der Kunst- und Kulturgeschichte, der Medizin und
       Trivialphänomenologie zu vielen Aspekten des Mund- und Rachenraumes. Und,
       Ironie der Zeiten: Zwei Tage nach der Eröffnung musste die Ausstellung „In
       aller Munde“ mit ihren über 250 Exponaten von 160 Künstler:innen wieder
       schließen, der Corona-Prävention gehorchend.
       
       So bleibt derzeit neben Museumsvideos im Netz nur die voluminöse
       Begleitpublikation, die zur Eröffnung als „Lektüre für die kommenden
       Wochen“ empfohlen wurde und weit über eine Ausstellungsdokumentation
       hinausreicht. In ihr entwickelt, adäquater als in einer visualisierenden
       Ausstellung, deren Impulsgeber, der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme,
       seine zentrale These: Der Mensch wird als Subjekt im Mundraum geboren, in
       einer zweiten, soziokulturellen Geburt.
       
       Als bidirektionaler Transitraum ist der orale Bereich ein über
       Jahrmillionen verfeinertes biomechanisches und einzigartig polyfunktionales
       Organ-Ensemble des menschlichen Körpers, das, lange bevor ein Mensch des
       kognitiven Urteils fähig ist, die Grunderfahrung aller Ästhetik liefert:
       den Geschmack. Der Mundraum ist die empfindsame Versuchszone, in der durch
       Abtasten mit Lippen, Gaumen, Zunge, durch Lutschen, Einspeicheln, Zermalmen
       und Schmecken entschieden wird, was bei sich behalten und was wieder
       ausgestoßen wird, kommentiert durch Mimik und averbale Kommunikation.
       
       Er ist somit das erste Welterschließungsorgan für die elementare Scheidung
       zwischen Ich-Sphäre und Objekt-Universum. Mit Atmung und Geruchssinn, der
       organischen Bereitstellung der Kommunikationsfähigkeit sowie der
       Triebdynamik in oralbegehrender und dentalaggressiver Ausrichtung misst
       Böhme dem Mund-Ensemble eine erstrangige Bedeutung für die Ontogenese des
       Individuums und die Phylogenese der Gattung bei. In der Kombination mit dem
       Ohr sei es ähnlich entscheidend für den evolutionären Siegeszug des
       Menschen wie die Allianz aus Hand und Auge. Allerdings sei die orale
       Selbstkonstitution stets im Schatten des „Begreifens“ mittels der Hand,
       nach Aristoteles „das Werkzeug für Werkzeuge“, des aufrechten Ganges und
       erst recht des Geistes und der Seele gestanden.
       
       Der Mund teilte zudem das Los anderer Körperöffnungen des Menschen, wenn
       geöffnet, als unschicklich zu gelten, somit nur verschlossen als gesittet,
       harmonisch und präsentabel. Gotthold Ephraim Lessing forderte 1766 in
       seinen Gedanken über den bildnerisch offensichtlich unterdrückten
       Todesschrei des Laokoon in der plastischen Gruppe, dass Malerei und
       Skulptur aus ästhetischen Gründen auf die Darstellung von Empfindungen und
       Affekten zu verzichten hätten. Extreme Mimik und der zum Schrei, aber auch
       der zum Lachen geöffnete Mund galten ihm als hässlich, letzterer wegen der
       fehlenden akustischen Komponente ohnehin als nicht visualisierbar – bis
       Edvard Munch 1910 in der synästhetischen Farbexplosion ein überwältigendes
       Ausdrucksmittel fand.
       
       Die Körperöffnung Mund diskreditierte zudem ihre mittelalterliche
       Bildgeschichte als, zuerst tierisches, Maul des Höllentors, das den
       sündigen Menschen verschlingt, auf dass er in ihrem Inneren auf ewig im
       lodernden Flammenmeer schmort.
       
       Aber Schrecken beflügeln auch die Fantasie: In der säkularen Architektur
       des Manierismus wurde der Höllenschlund zum anthropomorph dekorierten
       Eingangsportal, am bekanntesten wohl als Riesenmaul im heiligen Wald von
       Bomarzo nahe Roms, nach 1580 errichtet. Der Schlund im Walde führte nun
       nicht ins Purgatorium, sondern lud mit steinernem Tisch und Bänken zum
       ländlichen Gelage in seinem kühlen Inneren.
       
       Polare Spannungen und Kippmomente sind feste Bestandteile aller
       Betrachtungsebenen des Oralen. In der Ernährung etwa zwischen Appetit und
       Völlerei, Genuss und Ekel, dem Zu-Sich-Nehmen und Ausspeien. Hinter dem
       erotischen Signum des leicht geöffneten weiblichen Mundes lauern nicht nur
       Kehl-Penetration, sondern auch Kastrationsangst, gar Kannibalismus, hinter
       dem Kuss der Vampirismus. Zähne lassen sich dank moderner Medizin lang
       erhalten, sie sind teures Distinktionsmerkmal sozialen Status, ähnlich
       trendig wechselnder Esskulturen, Diäten, Superfood.
       
       Vergessen werden sollten auch nicht die politischen Konnotationen des
       Oralen. Seit Immanuel Kant kennen wir den Imperativ, der Mensch möge sich
       aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien. Mündige Bürger:innen
       dürfen ihre Stimme erheben, bei einer Wahl symbolisch abgeben. Aber ist
       unsere kommunikative Interaktion in den anonymen Weiten sogenannter
       sozialer Medien nicht ziemlich stimmlos geworden, bild- und textdominiert,
       inhaltsleer, verantwortungslos?
       
       Vielleicht sollten wir den Akt, wenn wir irgendwann die
       Mund-Nasen-Bedeckung wieder ablegen dürfen, zu unserer dritten Geburt
       erklären: zum multisensorischen Wesen, im vollen Bewusstsein seiner
       sozialen Mündigkeit.
       
       19 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bettina Maria Brosowsky
       
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