# taz.de -- Frankfurter Buchmesse 2020: Läuft wie am Schnürchen
       
       > Zu Gast beim Blauen Sofa. Bücher, Themen, Thesen am Fließband und eine
       > menschenfreundliche Autorin am zweiten simulierten Buchmessentag.
       
 (IMG) Bild: Hier läuft niemand, alles läuft im Livestream: Rolltreppe zur Messehalle in Frankfurt
       
       An diesem Mittwoch gelang es mir ganz gut, einen Buchmessentag zu
       simulieren. Wie unter Strom aufwachen morgens, wenn es noch dunkel ist, so
       fängt er auch immer in Frankfurt an.
       
       Schnell auf dem Handy nachsehen, was Frau Grütters am Dienstag bei der
       Eröffnung gesagt hat: erbauliche Dinge. Die Kulturstaatsministerin forderte
       „Raum für eine offene Debattenkultur“ – nun ja, wer ist in dieser
       Allgemeinheit schon dagegen? „Lesen schützt vor Dogmatismus und
       Fanatismus“, behauptete sie – nun ja, per se tut es das eben leider nicht.
       Es gibt auch sehr dogmatische sowie fanatische Bücher – und Leser*innen.
       Übrigens auch und gerade auf Buchmessen.
       
       Dann weiter im Tag. Nach dem Frühstück achtlos durch die Stadt bewegen, als
       käme man von einem anderen Planeten. Das hätte ich in Frankfurt auch getan.
       Und dann habe ich beim Blauen Sofa zugeschaut, so wie ich das in Frankfurt
       womöglich auch getan hätte. Nur dass das blaue Sofa nicht hinten in den
       Frankfurter Messehallen stand, sondern in Berlin in der
       Bertelsmann-Repräsentanz, wo die Gespräche dieses Jahr produziert und in
       die Welt beziehungsweise ins ZDF-Programm gesendet und ins Internet
       gestreamt werden.
       
       Tatsächlich stellt sich teilweise Buchmessenfeeling ein: Die Autor*innen
       und Bücher ziehen an einem vorbei wie sonst in Frankfurt. [1][Mely Kiyak]
       stellt ihr schönes Buch „Frau sein“ vor: Es ginge um die Frage: „Unter
       welchen Bedingungen kann man schreibende Frau werden?“ Und um
       Selbstermächtigung: Nicht mehr „andere erzählen meine Geschichte“, so wie
       Günter Wallraff früher in „Ganz unten“, sondern das tue ich jetzt selbst.
       Von Günter Wallraff zu Mely Kiyak, das ist auch ein gesellschaftlicher
       Fortschritt.
       
       Später kam der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich, dann der Schriftsteller
       Kristof Magnusson, dann der Lyriker und Essayist [2][Max Czollek]. Bücher,
       Themen, Thesen am Fließband. Als Richard David Precht dran war, habe ich
       Mittagspause gemacht.
       
       ## In der Medienmaschine
       
       Eine Buchmesse mit seinem Themen- und Menschentrubel zeigt einem
       anschaulich, dass man als Leser*in nicht allein ist – das ist das
       Beglückende daran; und auch, was für eine kulturell-wirtschaftliche
       Maschinerie hinter dem Lesen steht – das kann einen ernüchtern. Irgendwo in
       dieser Ambivalenz liegt auch der Eindruck, wenn man der Medienmaschinerie
       einen Tag lang bei der Produktion einer Büchersendung zuschaut.
       
       Alles läuft wie am Schnürchen. Das eine Autor*innen/Moderator*innen-Paar
       wird schnell abgekabelt, aus Coronagründen wird im Studio stoßgelüftet, das
       nächste Paar wird schnell verkabelt, ein Aufnahmeleiter wuselt herum und
       sagt Fernsehsprech-Sätze wie: „Alles auf Anfang bitte.“
       
       Alle tragen Mund-Nasen-Masken, viele mit kleinem Mainzelmännchen
       aufgedruckt. Und das blaue Sofa, auf dem sich die Gespräche abspielen,
       wurde in diesem Jahr vom Drei- zum Viersitzer verlängert, damit die
       Autor*in in der einen Ecke und die Moderator*in in der anderen Ecke
       Anti-Corona-Abstand einhalten können.
       
       ## Ich bin mehr als meine Biografie
       
       Aber das ist eben nur die Maschine, sie will mit Inhalten gefüttert werden,
       und mit reiner Quasselei oder Kulturstaatsministerinnenfloskeln kommt man
       dabei nicht durch, jedenfalls meistens an diesem Tag in der
       Bertelsmann-Repräsentanz nicht.
       
       Anna Mayr, die Autorin des Buchs „Die Elenden“, sagte etwa sehr kluge
       Sachen erstens dagegen, als Autorin auf seine Biografie festgelegt zu
       werden – „Ich bin mehr als meine Biografie“ –, und zweitens über das Elend
       unserer Arbeitsgesellschaft, die Arbeitslose unter
       Sozialschmarotzerverdacht stellt.
       
       Man freute sich über die Menschenfreundlichkeit dieser Autorin, die sich
       sicher ist, dass Sozialleistungen eher untergenutzt als ausgenutzt werden
       und alle Menschen arbeiten wollen – nur müssten, so Anna Mayr, „manche Jobs
       halt weniger beschissen werden“.
       
       Ein interessanter Tag. Um einen normalen Buchmessen-Mittwoch weiter zu
       simulieren, müsste ich danach noch erst von 17 bis 24 Uhr auf
       Verlagsempfängen durchreden und danach noch ein paar Stunden im zugigen
       Innenhof eines großen Museums herumstehen; in Frankfurt stünde am
       Mittwochabend ja die Rowohlt-Party in der Schirn an. Aber das bringt allein
       in Berlin dann doch keinen Spaß.
       
       14 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Essay-von-Mely-Kiyak/!5707766
 (DIR) [2] /Neues-Buch-von-Politologe-Max-Czollek/!5703362
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dirk Knipphals
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Literatur
 (DIR) Kolumne Buchmessern
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Literatur
 (DIR) Frauen
 (DIR) Kolumne Buchmessern
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Frankfurter Buchmesse 2020: Das Netz ist kein Ersatz
       
       Die Pandemie hat die Frankfurter Buchmesse, Verleger, Agentinnen und das
       Publikum ins Netz gezwungen. Lieber wären sie alle an einem Ort.
       
 (DIR) Frankfurter Buchmesse 2020: Im digitalen Durcheinander
       
       Das Collagenhafte der Buchmesse im Netz ist vollkommen in Ordnung. Doch wo
       kann man die Selbstdarsteller schwitzen sehen?
       
 (DIR) Frankfurter Buchmesse 2020: Von wegen forever young
       
       Ella Carina Werners 33 Kurzgeschichten erzählen humorvoll aus dem Leben von
       Frauen ab 40. Es geht um Tanten, Onkel und das Matriarchat.
       
 (DIR) Ein T-Shirt sorgt für eine Debatte: Plappern mit Jürgen Habermas
       
       Auch ohne Livepräsenz ist rund um die Frankfurter Buchmesse schon einiges
       los. Dennoch vermisst man die persönlichen Begegnungen.
       
 (DIR) Ausbreitung des Coronavirus: Leipziger Buchmesse abgesagt
       
       Die Stadt Leipzig und die Messeleitung sagen die Buchmesse wegen des
       Coronavirus ab. Auch die Thüringer Ministerpräsidentenwahl steht auf der
       Kippe.