# taz.de -- Schulstart trotz Corona in Brasilien: Keine Zeit für die Schule
       
       > Selbst wenn die Schulen in Brasilien bald wieder öffnen sollten: Viele
       > Kinder werden wahrscheinlich nicht hingehen können.
       
 (IMG) Bild: Rio de Janeiro: Kinder in einer Favela
       
       Sie verkaufen Kaugummis an Ampeln, putzen Schuhe auf Bürgersteigen,
       schuften auf Feldern weit im Landesinnern: Millionen von Kindern in
       Brasilien müssen arbeiten. Expert*innen rechnen damit, dass der Anteil der
       arbeitenden Kinder durch die wirtschaftlichen Auswirkungen der
       Coronapandemie steigen wird.
       
       „Wir befürchten, dass viele Kinder die Schule aufgeben werden, weil sie
       arbeiten müssen“, sagt die Aktivistin Marinalva Dantas der taz. Die
       66-Jährige lebt im nordöstlichen Bundesstaat Rio Grande do Norte und kämpft
       seit fast drei Jahrzehnten gegen Kinder- und Sklavenarbeit. „Früher haben
       die Kinder vor allem an den Wochenenden gearbeitet. Nun tun viele dies
       jeden Tag, da die Schulen geschlossen sind.“
       
       Obwohl Präsident Jair Bolsonaro in seinen cholerischen Ansprachen eine
       Wiedereröffnung der Schulen forderte und erklärte, dass Kindern keine
       Gefahr durch Corona drohe, haben bisher in nur einem Bundesstaat Schulen
       wieder geöffnet. Einzelne Landesregierungen diskutieren derzeit zwar einen
       baldigen Schulstart. Doch es ist davon auszugehen, dass die meisten Schulen
       in diesem Jahr geschlossen bleiben.
       
       In den vergangenen Tagen waren leichte Rückgänge bei den Coronazahlen zu
       verzeichnen, doch das Virus wütet immer noch unkontrolliert im größten Land
       Lateinamerikas. Mehr als 110.000 Menschen sind bereits an Covid-19
       verstorben, fast 4 Millionen Menschen haben sich infiziert. Die Pandemie
       trifft insbesondere arme Familien schwer. Viele informelle Arbeiter*innen
       haben ihre Jobs verloren, die Armut wächst im ganzen Land, mittlerweile
       hungern viele Menschen. So ist es kaum verwunderlich, dass immer mehr
       Kinder versuchen, durch Arbeit ihre Familien zu unterstützen.
       
       ## Schon vor Corona arbeiteten in Brasilien 2,4 Millionen Kinder
       
       Laut der Verfassung dürfen Kinder in Brasilien unter 16 Jahren nicht
       arbeiten. Bis sie 18 Jahre alt sind, dürfen Jugendliche nur mit strengen
       Auflagen arbeiten und sind von bestimmten Tätigkeiten komplett
       ausgeschlossen. Dennoch arbeiteten bereits vor Corona 2,4 Millionen Kinder.
       Das sind 4 Prozent aller Kinder.
       
       Laut einer Studie des Statistikinstituts IGBE ist Kinderarbeit der
       Hauptgrund, warum Kinder die Schule frühzeitig verlassen. Die Regierung der
       sozialdemokratischen Arbeiterpartei (PT) unter Präsident Luiz Inácio „Lula“
       da Silva versuchte gegen Kinderarbeit vorzugehen, indem sie
       Sozialleistungen an den Schulbesuch knüpfte. Die Aktivistin Dantas
       vermutet, dass viele Kinder in der derzeitigen Notsituation trotz möglicher
       Streichung von Sozialleistungen die Schule verlassen werden.
       
       „Die Arbeit gibt vielen Kindern Anerkennung zu Hause und zudem ein Gefühl
       von Freiheit.“ Doch Dantas warnt vor den gesundheitlichen und sozialen
       Risiken. „Ich hatte mit einem Mädchen zu tun, die als junge Erwachsene
       Invalidin war, weil sie als Kind so hart gearbeitet hat.“ Weil es an
       Bildung fehle, sei es für Kinder später unmöglich, einen regulären Job zu
       finden.
       
       Dass in der Coronazeit mehr Kinder arbeiten, haben Dantas und ihre
       Kolleg*innen bei ihrer alltäglichen Arbeit festgestellt. Doch ein Anstieg
       lässt sich in Rio Grande do Norte noch nicht mit Zahlen belegen. Das sieht
       in São Paulo anders aus. Laut einer Studie von Unicef hat die Kinderarbeit
       in dem Bundesstaat während der Pandemie um 21 Prozent zugenommen.
       
       ## Viele Schüler*innen haben keine Smartphones oder Laptops
       
       Emerson Szeremeta Ferreira ist Lehrer an einer öffentlichen Schule im
       sozial benachteiligten Süden der Megametropole São Paulo. Viele seiner
       Schüler*innen, die zwischen 8 und 13 Jahren alt sind, arbeiten, um ihre
       Familien zu unterstützen. „Als wir noch Unterricht hatten, schliefen viele
       Schüler im Klassenzimmer ein, weil sie abends Bonbons an Ampeln verkaufen
       oder Schrott sammeln mussten“, sagt Ferreira der taz. Ob einige seiner
       Schüler*innen wegen der Pandemie die Schule aufgeben werden, sei derzeit
       noch nicht abzusehen.
       
       Viele Schulen bieten in der Krisenzeit Online-Unterricht über spezielle
       Apps an. Das Problem: Viele arme Schüler*innen haben weder Smartphone, noch
       Tabletts oder Laptop. „Zahlreiche arme Familien sind der Meinung, dass ihre
       Kinder den Unterrichtsstoff sowieso nicht mehr aufholen können und sie
       deshalb lieber arbeiten gehen können“, sagt Kinderrechtsaktivistin Dantas.
       
       1 Sep 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Niklas Franzen
       
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