# taz.de -- Mehrsprachigkeit und Diskriminierung: Sprache kostet
       
       > Die Debatte um Mehrsprachigkeit sollte sozial bewusst geführt werden.
       > Denn mehrere Sprachen zu sprechen muss man sich leisten können.
       
 (IMG) Bild: Es geht auch so: Kinder lernen Arabisch in einer Grundschule in Berlin-Wedding
       
       Es ist eine Debatte in Anführungsstrichen, die immer dann aufgewärmt wird,
       wenn Deutschland wieder einen Schuss Leitkultur braucht. Sie ist ein
       Klassiker in konservativen Kreisen, erinnert man sich an den [1][einstigen
       Vorstoß der CSU], laut der in migrantischen Wohnzimmern bitte schön auch
       Deutsch zu sprechen sei; oder an [2][Carsten Linnemanns (CDU) Idee], noch
       nicht so deutschgewandte Kinder einfach später einzuschulen.
       
       Auch die FDP interessiert sich für die Deutschkenntnisse migrantischer
       Kinder. Das zeigt die kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion, in der sie
       auch erfahren wollte, wie viele der knapp 3,2 Millionen Kita-Kinder in
       Deutschland in ihren Familien „vorrangig nicht Deutsch“ sprächen. Die
       Antwort: 674.737 und somit 21,4 Prozent, wie die „[3][Tagesschau“ am
       Wochenende festgestellt] hat.
       
       Das kann man nun unbeeindruckt registrieren, besonders vor dem Hintergrund
       der Tatsache, dass [4][in Deutschland mehr als ein Viertel der Menschen]
       einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Oder man kann in die
       Mottenkiste der Sarrazin-Debatten greifen. Denn die Zahl solcher Kinder, so
       die „Tagesschau“, sei gestiegen: 2017 noch 18,7, 2018 noch 19,4 Prozent.
       
       Dass dieser prozentuale Anstieg kaum beachtlich ist, hinderte die
       „Tagesschau“ nicht daran, die Meldung zusätzlich in dramatisierendem
       Yoda-Satzbau als Sharepic durch das Netz zu jagen: „Kaum Deutsch zu Hause
       spricht jedes fünfte Kind.“ Debatte solche kennen längst schon wir!
       
       Wer immer wieder über das gleiche ressentimentgeladene Scheinproblem
       diskutieren muss, eignet sich über die Jahre ein Set an Antworten an. Diese
       dominierten am Wochenende die sozialen Medien, in all ihrer Berechtigung:
       Mehrsprachigkeit sei kein Mangel, sondern Bereicherung; wissenschaftliche
       Feststellungen wurden geteilt: [5][wenn Pädagog:innen Mehrsprachigkeit
       positiv bewerteten], unterstützten sie das Kind allgemein in seiner
       sprachlichen Entwicklung; wenn zu Hause Französisch oder Englisch
       gesprochen werde, gelte das kaum als Mangel, bei Türkisch oder Arabisch
       schon. Viele teilten persönliche Erfolgsgeschichten à la „Ich habe zu Hause
       Türkisch gesprochen, habe trotzdem den Doktor gemacht“. So weit, so
       bekannt.
       
       ## Sprache des Aufstiegs
       
       Jenseits eines Problems oder einer Bereicherung ist eine solide
       Mehrsprachigkeit aber vor allem eine Frage von Zeit und Geld. Und weil
       türkisch-, arabisch- oder russischsprachige Eltern meistens nicht als
       IT-Spezialisten oder Diplomatinnen nach Deutschland gekommen sind, sondern
       als Fabrikarbeiter:innen oder Reinigungskräfte, fehl(t)en ihnen oft die
       Mittel, dieser Belastung gerecht zu werden.
       
       Wenn das Kind gut Türkisch und gut Deutsch und nicht beides nur halbgut
       sprechen soll, braucht es zusätzliche Angebote, die man mit Geld besorgen
       kann, wenn es die öffentliche Hand nicht richtet; oder es braucht
       zeitintensives Engagement der Eltern. In vielen Familien, die gerade noch
       so viele Mittel hatten, um an den sozialen Aufstieg ihrer Kinder zu denken,
       wurde die Herkunftssprache deshalb oft zugunsten des Deutschen aufgegeben,
       weil Deutsch die Sprache des Aufstiegs ist. Dass Lehrer:innen und
       Politiker:innen die Herkunftssprache stigmatisierten, erhöhte den Druck.
       
       Natürlich hat die stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Katja Suding
       recht, wenn sie sagt: „Sprache entscheidet, welche Chancen ein Kind im
       Leben hat.“ Sie tut das vor allem in Deutschland, wo ein hierarchisches
       Bildungssystem Kinder sehr früh in studierfähig und nicht studierfähig
       einteilt. Das Problem ist deshalb nicht, dass Kinder kein Deutsch lernen
       wollen. Das Problem ist, dass sie ihre erste Sprache oftmals aufgeben
       müssen, um eine Chance im deutschen Bildungssystem zu bekommen.
       
       Ich hatte Glück. Mein Vater sprach im Kindesalter Türkisch mit mir, meine
       Mutter Deutsch. Weil sie selbst als Jugendliche nach Deutschland gekommen
       war, konnte sie das. Trotzdem ist mein Deutsch heute besser als mein
       Türkisch, was mich ärgert. Ich kenne aber Menschen, die ihre
       Herkunftssprache verloren haben. Ihr Selbstbezug leidet massiv darunter.
       Schuld daran sind das „Einwanderungsland“ Deutschland, Leitkulturdebatten
       und auch die sozioökonomische Ignoranz gegenüber jenen, die einst als
       Arbeiter:innen in dieses Land kamen.
       
       7 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Kommentar-CSU-fordert-Deutschpflicht/!5026834/
 (DIR) [2] /Linnemanns-Grundschulaussage/!5616456/
 (DIR) [3] https://www.tagesschau.de/inland/kinder-sprache-kita-101.html
 (DIR) [4] https://www.tagesschau.de/inland/migrationshintergrund-deutschland-101.html
 (DIR) [5] https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/deutsch-tuerkisch-polnisch-gute-sprachen-schlechte-sprachen-kolumne-a-1240626.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Volkan Ağar
       
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