# taz.de -- Neues Werk von Lyrikerin Anne Carson: Fragen in die Mona Lisa gießen
       
       > Rätselhaft schillernde Gedichte von Anne Carson in ihrem neuen Werk:
       > „Irdischer Durst“. Darin reiht sie Bilder und Worte assoziativ
       > aneinander.
       
 (IMG) Bild: Die kanadische Dichterin Anne Carson, die im Juni 70 Jahre alt wurde. Hier auf einem Foto von 1999
       
       Was ist das: „Irdischer Durst“? Der Leser des Bandes mit Gedichten, Essays
       und Aphorismen der kanadischen Dichterin und Altphilologin [1][Anne Carson]
       muss einige Seiten lang warten, bis er eine für die Autorin bezeichnende
       Antwort erhält: „Jeden Tag goss er seine Fragen in sie“, heißt es in „Über
       die Mona Lisa“ und mit „er“ ist offenbar der Maler des Bildes, Leonardo da
       Vinci, gemeint.
       
       „So wie man Wasser aus einem Behälter in einen anderen gießt, und es goss
       zurück. Erzähl mir nicht, dass er seine Mutter malte, oder Lust oder so. Es
       gibt einen Moment, da ist das Wasser nicht in dem einen und nicht in dem
       anderen Behälter – ein Durst war das, und er nahm an, dass er fortfahren
       würde, bis die Leinwand völlig leer wäre. Aber Frauen sind stark. Sie
       verstand etwas von Behältern, von Wasser und vom irdischen Durst.“
       
       Eine rätselhafte, poetische Antwort, die offenbar den schöpferischen
       Prozess beschreibt. Die an Roland Barthes erinnert, der einmal gesagt haben
       soll, dass ein gutes Gedicht einen besser versteht als man sich selbst. Nur
       dass an die Stelle des Gedichts hier das Bild tritt. Und eine Antwort, die
       auf das elementare Bedürfnis nach dem schöpferischen Prozess hindeutet.
       
       ## Gedichtfragmente und Pastiches
       
       Bereits im ersten Teil von „Irdischer Durst“ hatte Carson Hinweise auf ihr
       poetisches Verfahren gegeben. Es sind Gedichtfragmente, die an die
       Fragmente des um 600 vor unserer Zeitrechnung lebenden griechischen
       Dichters Mimnermos angelehnt sind. Pastiches, die Inhalte des Vorbilds
       übernehmen und Leerstellen mit eigenem Text füllen.
       
       Mimnermos, erklärt Carson in dem nachfolgenden Essay, „Mimnermos und die
       Wandlungen des Hedonismus“, hatte kein Interesse an historischen Bezügen.
       So kann sie auch nur über die Identität des Helden mutmaßen, von dem er in
       einem der Fragmente sagt, dass er in der Nähe der Heimatstadt Mimnermos’,
       Kolophon, gekämpft hat.
       
       „Doch wer ist dieser unvergleichliche Mann …? Sein Vater? Sein Großvater?
       Vielleicht frei erfunden? … Er lässt diese glänzende Erscheinung durch die
       Zeit wandeln wie eine Nadel, welche jene zwei Momente zusammennäht, aus
       denen Nostalgie gemacht ist. Das Damals und das Jetzt. Sein Thema ist die
       Tatsache, dass wir nicht mehr im Licht stehen (wenn wir nach ihm suchen).“
       
       ## Erinnerung an Kafka
       
       Das erinnert an Kafka, auf den es mehrere Hinweise in „Irdischer Durst“
       gibt. Wie Carson nimmt Kafka eine historische Gegebenheit nur zum Anlass,
       um eine eigene Geschichte zu erzählen, die eigenen Gedanken, eigenen
       Absichten folgt. In seinen kurzen, aphoristischen Texten stellt Kafka wie
       Carson Gegensätze schroff gegeneinander, weist auf deren dialektische
       Bezüge hin.
       
       Die Gedichte in „Irdischer Durst“ sind nicht leicht zugänglich, reihen sich
       in die Lyrik der Moderne ein, die durch letztlich nicht ganz
       entschlüsselbare assoziative Aneinanderreihung vor allem von Bildern und
       Worten geprägt ist. Aber der Leser wird durch die Beschäftigung mit ihnen
       belohnt. Denn Carsons Gedichte und Aphorismen stärken seine intellektuelle
       Souveränität. Sie ermöglichen neue Perspektiven auf die Dinge des Lebens.
       
       25 Aug 2020
       
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