# taz.de -- Waldschäden im Harz: Die Kraft toter Bäume
       
       > Im Nationalpark Harz sind die Folgen des Klimawandels besonders sichtbar.
       > Die Natur einfach sich selbst zu überlassen kann eine Lösung sein.
       
 (IMG) Bild: Klimawandel sorgt für scheintoten Wald: Hier war der Borkenkäfer unterwegs
       
       Braunlage taz | Wer den Harz von früher kennt, ist bei diesem Anblick
       fassungslos. An der Bundesstraße 4 im Harz, kurz vor Braunlage, ragen
       Tausende graue und braune Silhouetten abgestorbener Fichten in den Himmel.
       Dasselbe Bild ein paar Kilometer weiter, am Rehberger Graben – er wurde im
       18. Jahrhundert angelegt, um Wasser der Oker nach St. Andreasberg
       umzuleiten, wo es in Bergwerken Wasserräder zur Energieversorgung antrieb.
       So weit das Auge reicht, dominieren auch hier Grau und Braun. Auf dem Hang
       gegenüber breiten sich riesige Freiflächen aus, in denen die Stürme und
       Hitze der vergangenen Jahre und mehrere Generationen von Borkenkäfern die
       Stämme ganz umgeworfen haben.
       
       „Hier sieht man den Wald von morgen“, sagt Friedhart Knolle eher beiläufig.
       Was? Das soll der zukünftige Wald sein? „Ja, der Wald ist nämlich gar nicht
       so tot, wie er aussieht.“ [1][Die toten Fichten seien nur eine
       Zwischenstation auf dem Weg zu einer neuen Wildnis]. Wo Leben vergehe, da
       entstehe Platz für Neues. Knolle, Sprecher des Nationalparks Harz, stapft
       voran über abgebrochene Stämme und vermoderndes Holz – Totholz, das
       tatsächlich gar nicht tot ist: Schon nach ein paar Metern Fußweg ist
       unübersehbar, dass zwischen den stehenden und liegenden Stämmen bereits
       eine neue Generation Wald heranwächst.
       
       Überall sprießen junge Ahorne, Ebereschen und Birken aus den morschen
       Stümpfen. Zwischen den stummen Zeugen des Klimawandels breitet sich ein
       Teppich aus blühenden Kräutern aus.
       
       Intensives Gezwitscher von allen Seiten ist zu hören. „Die Vogeldichte
       steigt im wilden Wald“, sagt Knolle. Sperlingskauz und Schwarzspecht sind
       zurückgekehrt, die Spechte hämmern ihre Höhlen gern in die toten Stämme. Im
       Unterholz finden Luchse und Wildkatzen Unterschlupf. Die vermodernden
       Stämme sind zudem Lebensraum und Nahrungsquelle für viele Pilze und
       Insekten, Käfer und Wildbienen nutzen Totholz für ihre Brut.
       
       In der Kernzone des Nationalparks, die etwa 60 Prozent der Fläche des
       insgesamt knapp 250 Quadratkilometer großen Schutzgebietes ausmacht, kann
       sich die Natur seit einigen Jahren frei entwickeln. Ehemalige
       Wirtschaftswälder dürfen wieder zu wildem Naturwald werden. „Wir greifen
       hier nur noch zur Sicherheit der Gäste und des Straßenverkehrs ein“,
       erklärt Knolle. An Straßen, an den Schienen der Harzer Schmalspurbahnen und
       an besonderen touristischen Zielen würden tote oder absterbende Bäume also
       umgerissen und an die Seite gezogen. Aber eben auch nur dort.
       
       Totholzreiche, naturnahe Wälder ermöglichen nicht nur neue Artenvielfalt,
       sie erfüllen auch eine wichtige Funktion für den Klimaschutz: Langsam
       verrottende Stämme und die mächtigen Humusböden speichern große Mengen des
       Treibhausgases Kohlendioxid. Gräser, Kräuter und nachwachsende Bäume nehmen
       frei werdende Nährstoffe auf und binden sie in neuer Biomasse.
       
       Was vorerst bleibt, ist der hässliche Anblick. Knolle räumt ein, dass es
       deshalb auch Kritik gibt an der Waldpolitik der Nationalparkverwaltung.
       [2][Und dass das Motto „Natur Natur sein lassen“ nicht bei allen gut
       ankommt.] Allerdings hätten sich die Widerstände inzwischen „auf ein
       Minimum reduziert – vor allem seit klar ist, dass sich auch so Geld
       verdienen lässt“.
       
       Im Tourismus nämlich. Wie viele Politiker haben auch Touristiker*innen im
       Harz die Klimakrise lange Zeit ignoriert oder ihr Ausmaß kleinzureden
       versucht. Diese Strategie ist gescheitert, [3][das wurde beim Harzer
       Tourismustag 2019 in Goslar deutlich]. Für eine ausschließliche Prävention
       sei es bereits zu spät, hieß es dort. In den vergangenen beiden Jahren habe
       man die schmerzliche Erfahrung machen müssen, dass den Auswirkungen des
       Klimawandels nur bedingt etwas entgegengesetzt werden könne.
       
       Weil das Problem nun aber erkannt ist, soll es künftig auch offensiv
       benannt werden, betont die Geschäftsführerin des Harzer Tourismusverbandes,
       Carola Schmidt. Sie stellte den rund 100 Teilnehmern der Veranstaltung die
       neue Kommunikationskampagne des Verbandes mit dem Titel „Der Wald ruft!“
       vor.
       
       Statt den Urlaubern den Zustand der Wälder zu verschweigen, sollen
       Harz-Reisende bereits vor dem Start im Internet, mit Flyern und in
       Broschüren darauf vorbereitet werden, welcher Anblick sie womöglich
       erwartet. Und wie der Nationalpark mit den klimawandelbedingten Schäden
       umgeht.
       
       Auch vor Ort werden Waldsterben und Waldleben inzwischen thematisiert.
       Zuletzt entstanden eine Multimedia-Station im Nationalparkhaus Schierke und
       vier Themeninseln entlang der Brockenstraße – der beliebte Wanderweg führt
       auf den höchsten Berg im Harz.
       
       An diesen Punkten können sich Wandersleute nun direkt zu den Waldbildern
       informieren, die ihnen auf ihrem Weg zum Gipfel begegnen. Anhand von
       Panoramafotos und passenden Sichtachsen lässt sich die stetig
       voranschreitende Entwicklung hin zur Wildnis an den jeweiligen Standorten
       gut vergleichen.
       
       Unter dem Motto „Baustelle Natur – Hier baut die Natur die neue Wildnis“
       erlauben die Themeninseln Einblicke in den rasanten Waldwandel. Und sie
       erläutern, warum tote Bäume im Nationalpark nicht das Ende des Waldes,
       sondern den Beginn der neuen Waldwildnis einläuten.
       
       14 Aug 2020
       
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