# taz.de -- Die Wahrheit: Die Familienjuwelen des Präsidenten
       
       > Alle Welt erwartet vor der US-Wahl im November die legendäre
       > Oktober-Überraschung. Und Donald Trump bietet eine ganz besondere.
       
       Die Sonne erhob sich langsam aus ihrem Bett und erwärmte das kleine
       Städtchen Ferndale. Ruhig und grün lag es da im „Green State“ Washington
       hoch oben im Nordwesten. Ein junges Reh hatte sich neugierig in den
       Vorgarten von Ellen und Lloyd Greer verirrt und horchte mit rotierenden
       Ohren den Deer Creek Drive entlang. Aus der Ferne drang der Lärm des
       Highways durch die Stille, und allmählich näherte sich ein schrappendes
       Motorengeräusch: ein Hubschrauber.
       
       Es dauerte noch etwas, bis die Kolonne schwarzer Limousinen eintreffen
       würde, die sich jetzt mit heulenden Sirenen ankündigte. Das Reh sprang
       davon und tauchte in den nahen Waldrand ein. Verschlafen blickten Ellen und
       Lloyd Greer in ihren Morgenmänteln, die Kaffeebecher in den Händen, die
       schmale Straße hinab. Es sollte etwas auf sie zukommen, das sie bis zum
       Abend in sämtliche Nachrichtensendungen der Welt von Paris bis Tokio
       katapultieren würde.
       
       Seit Wochen rätselten die politischen Beobachter, wie die „October
       Surprise“ aussehen könnte, mit der Donald Trump die Wahl im November 2020
       noch drehen wollte. Traditionell ereignete sich im Wahlkampf immer eine
       späte Überraschung, die alle Umfragewerte verkehren konnte. Vor der Wahl
       2016 hatten Hillary Clinton die plötzlichen Ermittlungen des FBI wegen
       einer angeblichen Mail-Affäre politisch das Genick gebrochen.
       
       Trump lag bei den Umfragen schon seit Monaten hinter seinem demokratischen
       Widersacher Joe Biden zurück, der sich vornehm aus dem Schlamassel
       heraushielt: Die Corona-Epidemie mit ihren Millionen Infizierten und mehr
       als hunderttausend Toten, die am Boden liegende Wirtschaft und die
       landesweiten Unruhen nach der wieder einmal sichtbar gewordenen
       Polizeigewalt hielten die Nation in Atem. Und der Präsident tat nichts,
       Trump wirkte überfordert, während Biden die Wahl freudig auf sich zukommen
       lassen konnte – wäre da nicht die Oktober-Überraschung, die alles
       durcheinanderwirbeln würde. Die letzte Chance für den vermeintlichen
       Verlierer.
       
       ## Das Kaninchen und der Hut
       
       Was würde es diesmal sein? Gespannt warteten die Journalisten und
       Spin-Doctors auf das Kaninchen und den Hut, aus dem es gezogen werden
       würde. Und darauf, welcher Trumpologe als Erster Farbe, Größe und Gewicht
       richtig einschätzte. Wie gewohnt preschte die New York Times vor und
       berichtete, dass die verdächtigen Explosionen in Industriekomplexen
       Teherans auf einen unerklärten Krieg gegen den Iran hinweise, der mithilfe
       Israels im Oktober offen ausbrechen würde, damit sich die Nation hinter dem
       Kriegspräsidenten scharte. Aber der Hut des Zauberers war alt und glanzlos
       geworden. Ein Feldzug im unübersichtlichen Mittleren Osten war nichts für
       Trump, der ja nicht einmal zu Hause einen Krieg gegen einen kleinen Virus
       führen wollte.
       
       Die Washington Post glaubte, die wahre Überraschung zu kennen: Einen Monat
       vor der Wahl würde Trump einen Impfstoff gegen Corona präsentieren und sich
       zum Sieger gegen den heimtückischen Feind erklären: „Mission accomplished“.
       Die Inszenierung sei bereits geplant, inklusive des Feuerwerks im Garten
       des Weißen Hauses und der Worte, die der Meister der Selbstbemoglung dem
       besiegten Erreger entgegenschleudern wollte: „You’re fired!“ Aber 2020 war
       nicht mehr 2016. Keine Zeit für Shows. Der Zauberer war erschöpft, das
       Orange seines einst glänzenden Kostüms war blass wie die verschrumpelte
       Schale einer Apfelsine, die zu lange in der Sonne gelegen hatte.
       
       Nein, alle Auguren irrten sich, auch weil selbst im engsten Umfeld des
       Präsidenten niemand ahnte, welche geniale Wunderwaffe Trump noch in den
       Tiefen seiner undurchsichtigen Hirnwindungen bereithielt. Verzweiflung
       machte sich in den Büros der Hauptstadt breit. Endzeitstimmung kam auf.
       Keine vier Jahre mehr. Donald Trumps Zeit war wohl endgültig abgelaufen.
       
       ## Das Raunen der Schaulustigen
       
       Im beschaulichen Ferndale standen Ellen und Lloyd Greer immer noch am
       Fenster, die Augen weit aufgerissen. Ein Tross von Limousinen, Polizeiautos
       und Fernsehwagen hatte sich den Deer Creek Drive hochgeschlängelt und vor
       dem Haus der beiden eigentlich sehr zurückgezogen lebenden Rentner eine Art
       Heerlager errichtet. Als gute Katholikin schlug Ellen Greer ein Kreuz und
       schickte ein Stoßgebet gen Himmel, als die Türen von „The Beast“
       aufsprangen und sich der Präsident höchstpersönlich aus dem Cadillac One
       herausschälte. Ein Raunen ging durch die Menge der Schaulustigen, und
       selbst die sonst unerschütterlichen Leibwächter zuckten zusammen. Trump war
       vollkommen nackt!
       
       Mit entschlossenen Schritten stapfte der bullige Präsident unbekleidet
       durch den Greer’schen Vorgarten auf die sich jetzt öffnende Haustür zu.
       Bleich und immer noch mit den Bechern in den Händen standen die Greers da.
       Der mächtigste Mann der Welt baute sich, wie Ellen Greer später zu
       Protokoll gab, „in vollem Ornat der Natur“ vor den beiden auf. Er, sagte
       Lloyd Greer anschließend immer noch sichtlich irritiert in einem Interview
       bei Fox News, habe „die Familienjuwelen des Präsidenten“ gar nicht
       wahrgenommen, so fasziniert sei er gewesen von dem gewaltigen
       orangefarbenen Busch, der ihm ins Auge gestochen sei und den er wohl für
       den Rest seines Lebens nicht vergessen werde.
       
       „Ich trage keine Maske!“, waren die ersten Worte, die der Präsident an die
       Greers richtete, die von ihm ausgewählt worden waren, weil sie den
       absoluten Durchschnitt Amerikas repräsentierten. Er habe rein gar nichts zu
       verbergen, erklärte Trump der versammelten Weltpresse kämpferisch und
       kratzte sich versonnen die Nuggets. Wie CNN später recherchierte, hatte ihm
       eine Wahlkampfrede Joe Bidens die Idee zu seiner Nacktoffensive geliefert.
       Biden hatte Trump wegen seiner zurückgehaltenen Steuerunterlagen
       aufgefordert, die Hosen fallen zu lassen: „Drop your pants, man!“
       
       Die amerikanischen Medien machten das „question mark in the crotch“
       (Reader’s Digest), also das Fragezeichen im Schritt, sofort zum Thema
       Nummer eins und spekulierten heftig über die Größe, die zwischen „zero“
       (New York Ledger) und „supersized“ (Daily Planet) schwankte. Trumps
       Auftritt aber, der für zwei tödliche Herzinfarkte in seinem Wahlkampfstab
       sorgte, brachte ihm tatsächlich noch eine zweite Amtszeit ein. Er hatte
       genau das erreicht, was er erreichen wollte: Seine Gegner standen als
       verkniffene Moralapostel da und hassten ihn nur noch mehr, während sich
       seine Anhänger erneut in seinen unberechenbaren Mut zum Ungewöhnlichen
       verliebten und hinter seinem Gemächt versammelten.
       
       „You’re welcome, Mr. President“, begrüßten die Greers, als der Schock
       nachließ, den hocherfreuten Nackten. Dann baten sie Donald Trump auf einen
       Kaffee herein. Lächelnd ließen sie die Morgenmäntel von den Schultern
       gleiten und schlossen die Haustür.
       
       18 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Ringel
       
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