# taz.de -- Zeitalter der Desinformation: Auf dem Boden der Realität
       
       > Sich der Wahrnehmung der Wirklichkeit zu verweigern, stößt an eine
       > absolute Grenze: den Tod – durch Polizeigewalt und durch die Pandemie.
       
 (IMG) Bild: Blick vom Calvary Cemetery in Queens auf Manhattan
       
       An einem Punkt sollten wir Donald Trump dankbar sein. Seine [1][besonders
       bei Wahlkampfauftritten deutlich erkennbare brutal direkte Art], seine
       unvermittelte Übersetzung eines genauso machistischen wie autokratischen
       Bauchgefühls in Sprache, legt Dinge offen, die sonst verschleiert werden:
       Die post-truth-society hat das Ruder übernommen. „Wer so viel testet“,
       [2][agitierte er in Tulsa in einer halbleeren Halle], „wird mehr Fälle
       finden. Deshalb habe ich meinen Leuten gesagt, dass sie langsamer testen
       sollen.“
       
       Nun ist diese Selbstermächtigung nicht neu. Trump ist der restlos
       narzisstisch entfesselte Gestalter seines Universums. Vermutlich glaubt er
       tatsächlich daran, dass weniger Tests weniger Fälle bedeuten. Während
       allerdings bei unzähligen Tweets und Behauptungen Seiner Hoheit noch Streit
       entbrennen konnte, während noch debattiert wurde, was wirklich war, ist
       Trump den Weg restloser Simulation diesmal zu Ende gegangen. Er macht
       keinen Hehl daraus, dass politisch nützliche Zahlen von der Zählung und
       nicht von der Wirklichkeit abhängen. An genau diesem Punkt ergibt es keinen
       Sinn mehr, Trumps Aussagen mit irgendeiner Wirklichkeit abzugleichen. Er
       hat sie kassiert.
       
       Die Debatte um Fakten versus alternative Fakten, die selbst schon
       einigermaßen irre war, gehört also bereits der Vergangenheit an. Trump –
       nicht als Person, sondern als Repräsentant eines verwirrenden politischen
       Spiels und eines düsteren Zeitgeists – hebt die Trennung von Zeichen und
       Bedeutung vollständig auf. Er entkoppelt das Gesagte und politisch Wirksame
       von jedem Bezug auf ein Äußeres, auf eine Wirklichkeit hin. Während also
       noch gestritten und unterschiedlich „bewiesen“ werden konnte, wie viele
       Leute tatsächlich bei seiner feierlichen Inthronisierung anwesend waren,
       hat Trump dieses Spiel zwischen faktisch und alternativ-faktisch beendet.
       
       Sicher, eigenwillig gewichtet, verdreht oder gelogen wurde schon immer. Das
       ist Teil des politischen und öffentlichen Geschäfts. Gegenwärtig allerdings
       muss sich die Lüge nicht mehr verstecken. Sie entfaltet ihre Wirkung und
       wird im Hochgeschwindigkeitsgeschäft des Medialen, also der
       Informationsgesellschaft, umgehend verstoffwechselt. Ihr Status als Lüge
       oder Verdrehung geht in der Masse der Fiktionalisierungen unter. Es ist
       machtpolitisch nicht mehr relevant, was stimmt und was nicht. Die Praxis
       des Behauptens einerseits und die Tatsache unterschiedlicher Realitäten,
       die mehr von der Wahl der Youtube-Kanäle und Telegram-Gruppen abhängt als
       von irgendeiner Wirklichkeit, hat das politische Spiel substanziell
       geändert. „Heutzutage funktioniert die Abstraktion nicht mehr nach dem
       Muster der Karte [oder] des Begriffs“, schrieb der französische Philosoph
       und Medientheoretiker Jean Baudrillard vor einigen Jahrzehnten. „Vielmehr
       bedient sie sich verschiedener Modelle zur Generierung eines Realen ohne
       Ursprung“, also „eines Hyperrealen.“
       
       ## Beschäftigung für alle
       
       Selten war es so einfach, die eigene Meinung gegen logische oder sachliche
       Einwände abzudichten. Die einen feiern schließlich die dreiste
       Selbstermächtigung von Trump und Co.und reden sich beharrlich ein, dass
       noch der dümmste Tweet die Wahrheit speche. Seine Macht ist ihre Macht, sie
       müssen nur daran glauben. Die anderen regen sich auf und weisen genauso
       beharrlich auf Widersprüche und Falschaussagen hin. Am Ende sind alle
       beschäftigt. Die „unerträgliche Gleichzeitigkeit des Seins“ übernimmt und
       provoziert „information rage“, einen Informationswahn, wie Bernhard
       Pörksen die Gereiztheit der Gegenwart umschreibt.
       
       Trump ist in vielerlei Hinsicht Kind seiner Zeit – genauso wie
       Verschwörungsideolog*innen und Coronaleugner*innen. Jeweils sättigt sich
       ihre Argumentation, wenn man es denn so nennen will, aus einer von der
       Informationstheorie vorbereiteten Zirkulation reiner Zeichen. Die Zeichen
       gelten als Beleg für Zeichen, die als Beleg für Zeichen gelten, und so
       weiter. Während die einen Todesstatistiken deuten und die anderen Corona
       zur „leichten Grippe“ herabstufen, gibt es auch jene Freaks, die, ohne es
       zu wissen, das Problem unmittelbar benennen.
       
       Dieser fast schon anmutige Facebook-Kommentar samt zweier Antworten spricht
       Bände: „Ich habe herausgefunden“, heißt es ganz im Modus der
       Selbstermächtigung, dass „es sich bei einem ‚Virus‘ um eine Information
       handelt. Virus = Information. Eine Information kann man schlecht beweisen.“
       Von diesem Moment an ist jede Aussage möglich, sie muss nur als Information
       prozessiert werden können. Um eine reine Information weiterzugeben, heißt
       es weiter, brauche es einen „Träger, das kann eine Zelle, ein Mensch, ein
       Tier, ein Buch, eine CD oder ein Radio sein. Ohne diese Mittel keine
       Information.“ Ein anderer User entgegnet: „Ich habe gelesen: Virus heißt
       Gift“, was beinahe logisch den Einwand zur Folge hat: „Ja, aber kann eine
       Information kein Gift sein?“
       
       Was Trump zum Höhepunkt treibt und die herrliche Gleichsetzung von
       Information und Virus ermöglicht, gerät mit Corona gleichzeitig ins Wanken.
       Oder anders: Die Realität kehrt als tödliches Virus zurück und zeigt
       schmerzhaft, dass alle Verbindungen zwischen Politik oder Wissen und
       Wirklichkeit gekappt wurden. Soziale Missstände, Ausbeutung und
       Klassenherrschaft, wie wir sie nicht nur in den USA beobachten können,
       lassen sich (und das ist schon bedrückend genug) ideologisch immer noch
       einfangen und zum Beispiel als Freiheit umdeuten. Das Spiel der Zeichen
       ermöglicht es. Die Leute müssen nur daran glauben. Mit dem Tod selbst
       allerdings haben die postfaktischen Agitator*innen so ihre Schwierigkeiten.
       
       Die Coronapandemie wird häufig als Zäsur verhandelt, ökonomisch, sozial und
       politisch. Der Ausgang ist bekanntlich offen. Die Frage ist möglicherweise,
       ob sie einer Zäsur in der Ordnung des Wissens oder des Medialen Vorschub
       leistet. Vielleicht kehrt mit dem Virus etwas Wirklichkeit zurück in den
       politischen Alltag. Vielleicht ist es fortan nicht mehr ganz so effektiv,
       mit lautem Gebrüll und endlosen Superlativen Politik zu machen.
       
       Es gibt Indizien dafür und dagegen. Einerseits war die Coronapolitik der
       Bundesregierung von einem überraschenden Maß an Plausibilität und
       Sachlichkeit geprägt. Nicht ohne Fehler, selbstredend, und nicht bereit,
       die Fundamente einer Herrschaft des Reichtums tatsächlich anzutasten. Und
       dennoch waren andere Wege denkbar, wie Brasilien, die USA und teils
       Großbritannien gezeigt haben. Andererseits kehrte der ohrenbetäubende Lärm
       des Kampfs um Aufmerksamkeit schnell zurück. Sobald die Wirklichkeit des
       Virus etwas Luft hinter die Maske ließ, schepperte es schreiende Zeichen
       ohne Gegenstand. Da war im Kontext der Ereignisse von Stuttgart von
       „Zivilisationsbruch“ und „Reichskristallnacht“ die Rede.
       
       All das gehört zur alten Ordnung des Postfaktischen, in der fast beliebige
       Ereignisse zur Simulation der letzten Schlacht erhoben und entsprechend
       ausgebeutet wurden. Kein Tag vergeht ohne Superlativ, ohne „eine neue
       Qualität der Gewalt“ und ähnliches Geschwätz. Mir scheint jedoch, dass mit
       Corona mehr und mehr Leute des wüsten Gebrülls der Seehofers, Hildmanns
       oder Broders überdrüssig sind, dass sie den Modus Operandi durchschaut
       haben und vor allem genervt sind.
       
       Schließlich zeigt so ein Virus, dass auch mediale Zeichen nur von Belang
       sind, wenn sie irgendeine Verbindung zur Wirklichkeit haben. Nicht zufällig
       stolpert Trump, [3][wie der Schweizer Reporter und Publizist Constantin
       Seibt analysiert hat], genau dann, wenn es nicht um ihn geht, wenn die
       rassistische Wirklichkeit der Polizeigewalt in aller Brutalität zutage
       tritt und gleichzeitig ein Virus als Realität vernünftige Politik verlangt.
       Nicht das mediale Geschrei und seine Widerlegung bringt Trump ins Wanken,
       sondern der Einbruch der Wirklichkeit.
       
       3 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Wendepunkt-im-US-Wahlkampf/!5690945
 (DIR) [2] https://www.nbcnews.com/politics/2020-election/trump-tells-tulsa-crowd-he-wanted-slow-down-covid-19-n123165
 (DIR) [3] https://www.republik.ch/2020/06/17/die-unschuld-des-donald-trump
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Robert Feustel
       
       ## TAGS
       
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