# taz.de -- Die steile These: Augenhöhe ist keine Frage der Größe
       
       > Saioa Alvarez Ruiz ist kleinwüchsig. Bei der Arbeit will sie einen
       > tieferen Bürotisch. Denn auf Augenhöhe zu sein, ist eine Frage der
       > inneren Haltung.
       
 (IMG) Bild: „Viele wollen auf Augenhöhe sein, aber verstehen nicht, was das heißt“, sagt Saioa Alvarez Ruiz
       
       Ich bin kleinwüchsig. Viele fragen mich, ob es in Ordnung sei, wenn sie in
       die Hocke gehen oder sich hinsetzen, um mit mir zu sprechen – auf
       Augenhöhe.
       
       Ich sage dazu: Es ist mir egal. Natürlich ist es gelegentlich ganz schön,
       Augen aus nächster Nähe zu betrachten. Doch machen es großwüchsige Menschen
       falsch, wenn sie aufrecht stehen bleiben und aus der Entfernung mit mir
       sprechen? Nein. Falsch wäre nur zu glauben, dass sie mir dadurch überlegen
       sein könnten. So, wie es mein Berater der Agentur für Arbeit versteht.
       
       Nach meiner Freiberuflichkeit bin ich seit einem Jahr in einem Büro
       angestellt. Meine Kolleginnen und Kollegen haben große Schreibtische. Es
       sind Serienmodelle von der Stange, man könnte sie auch durchschnittlich
       oder Standard nennen. Ich selbst habe mich für einen tieferen Bürotisch
       entschieden. Ich bin schließlich kleiner.
       
       Ein Mann mit Kleidergröße 50 kauft sich auch keine Hose in Größe 58. Und
       andersherum ließe sich wohl kaum ein Mann mit Kleidergröße 58 von einer
       Hose in 50 überzeugen (obwohl es die für Männer durchschnittliche
       Konfektionsgröße ist). An meinem Schreibtisch muss nur ich allein arbeiten
       können, daher soll er meinen Körpermaßen entsprechen. Klingt
       selbstverständlich, doch der Weg dorthin ist es nicht.
       
       Prinzipiell ist die Sache so: Menschen mit Behinderung stehen sogenannte
       Arbeitshilfen zu, die sie arbeitsfähig machen sollen. Den entsprechenden
       Antrag auf Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben stelle ich als
       Angestellte bei der Bundesagentur für Arbeit. Wenn also die Schreibtische
       an meinem Arbeitsplatz für mich nicht geeignet sind, dann kümmere ich mich
       eigenständig um eine alternative Lösung, und die Kosten dafür werden
       übernommen.
       
       ## Kein Autoritätsproblem
       
       An diesem Prozedere sind einige „Sachverständige“ beteiligt, darunter mein
       technischer Berater – sie alle glauben zu wissen, was das Beste für mich
       sei, und entscheiden mit. Als ich schließlich den Kostenvoranschlag für
       meinen zukünftigen Bürotisch einreiche, ruft wenige Tage später mein
       technischer Berater der Agentur für Arbeit an: „Wieso bestellen Sie einen
       so tiefen Tisch?“ Er hatte mich schon mal gesehen, ich verstehe daher seine
       Frage nicht. Ich sage: „Ich verstehe Ihre Frage nicht.“ Er präzisiert: „Das
       sieht doch dann aus wie im Kindergarten!“
       
       Ich muss Luft holen. Sorgt er sich um die Ästhetik unseres Büros? Oder ist
       er bekümmert, dass meine Kolleginnen und Kollegen mich für ein Kind halten
       könnten?
       
       Dem Ästheten antworte ich, dass es um eine Sehgewohnheit geht, die erlernt
       und somit formbar ist. Wenn wir verschiedene Tischhöhen (und Körpergrößen)
       nicht gewohnt sind, sollten wir unsere Sehgewohnheit erweitern und uns
       nicht darauf versteifen, dass alle Tische (und Menschen) gleich auszusehen
       hätten.
       
       Dem um meine Autorität Besorgten antworte ich: Dass Größe nicht automatisch
       mit Alter gleichgesetzt werden kann, hat bereits meine zweijährige Nichte
       verstanden. Sie weiß, ihre Tante ist klein, geht aber nicht in ihren
       Kindergarten. Sie schließt daraus: Ihre Tante ist klein, aber kein Kind.
       Wenn meiner Nichte diese nicht allzu komplexe Differenzierung gelingt,
       wieso sollte ein tieferer Bürotisch dann bei meinen Kolleginnen und
       Kollegen zu Verwirrung führen?
       
       Ich bin eine Frau mit zwei Studienabschlüssen und einem Job – ich gehe
       nicht in den Kindergarten. Auf meinem Bürotisch steht keine Murmelbahn,
       sondern Computer und Telefon. Wie könnte da der Hauch einer Verwirrung
       aufkommen?
       
       Dennoch hält es der technische Berater für sinnvoller, wenn ich auf einem
       elektrisch höhenverstellbaren Stuhl arbeiten würde, der mich an die viel zu
       hohen Serienmodelle im Büro anpasste. Das wäre dann so: Jedes Mal, wenn
       mich eine Kollegin im Büro zu sich ruft, bitte ich sie um Geduld, bis meine
       Füße wieder sicher auf der Erde angekommen sind (einige von uns wissen, in
       welchem Schneckentempo Reha-Hilfsmittel, etwa Treppenlifte, sich
       fortbewegen).
       
       ## Es geht auch anders
       
       Nach der Besprechung mit meiner Kollegin setze ich mich zurück an meinen
       Platz und warte wieder, bis der Stuhl die Höhe des viel zu hohen Tisches
       erreicht hat – und das bei jedem Gang, ob Besprechung, Druckauftrag,
       Toilette, zigmal am Tag.
       
       Ich weiß, dass viele meiner kleiner gewachsenen Kolleg*innen auf der Welt
       das tatsächlich so machen. Sie werden ihre persönlichen und professionellen
       Gründe dafür haben, und ich achte ihre Entscheidung mit vollem Respekt.
       Aber es geht auch anders.
       
       Ich möchte diejenigen ermutigen, die noch nicht die Idee,
       Durchsetzungskraft oder Geduld hatten, ihre Tische in der eigenen Höhe zu
       wählen – weil sie vielleicht einen ähnlichen technischen Berater wie ich
       hatten oder Menschen mit vergleichbar unausgereifter Beratungsexpertise
       begegnet sind.
       
       Viele Menschen wollen mit anderen auf Augenhöhe sein, aber sie verstehen
       nicht, was das heißt. Ich fordere eine diskriminierungskritische
       Weiterbildung für Angestellte der Agentur für Arbeit, insbesondere der
       Reha-Abteilung, um Benachteiligung und Beleidigung ihrer Kund*innen mit
       Behinderung zu vermeiden – auch um meine Energie und Zeit nicht zu
       verschwenden, die ich auf meine eigentliche Arbeit verwenden sollte.
       
       Mein Bürotisch und andere Dinge, die mir Arbeitshilfen sein sollten, sind
       zunächst unbezahlte Mühen, unzählige E-Mails, Telefonate, Recherchen,
       Verhandlungen, Rechtfertigungen, begleitet von ständiger Bevormundung.
       
       Ob nun jemand in die Hocke geht, um mir eine Notiz auf meinem Bürotisch zu
       hinterlassen, oder ob eine Person auf ihrer eigenen Höhe bleibt, um mit mir
       zu sprechen: Ich fühle mich nicht unterlegen. Ich fühle mich nicht schwach.
       Natürlich gibt es größer gewachsene Menschen, die ihre Körpergröße mit
       Überlegenheit verwechseln.
       
       Doch dagegen hilft es wenig, wenn ich mich auf einen Stuhl setze und warte,
       bis dieser mich künstlich größer macht. Dagegen habe ich klügere
       Strategien, denn permanent unterschätzt zu werden hat wenig Vorteile, doch
       sicherlich einen: selbst die Expertin darin zu werden, auf Augenhöhe zu
       arbeiten. Augenhöhe ist keine Frage der Körpergröße, sondern der Haltung.
       Ich trainiere sie tagtäglich. Und Sie?
       
       21 Jun 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Saioa Alvarez Ruiz
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kleinwuchs
 (DIR) Diskriminierung
 (DIR) Behinderung
 (DIR) Arbeit
 (DIR) Leben mit Behinderung
 (DIR) tazbehinderung
 (DIR) Lesestück Interview
 (DIR) Medien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Raul Krauthausen über Mediennarrative: „Die Sprache ist paternalistisch“
       
       Medien stilisieren Menschen mit Behinderung oft als Held*innen oder Opfer.
       Raúl Krauthausen fordert, dass Journalist*innen sich mehr hinterfragen.
       
 (DIR) Interview zum Thema Kleinwuchs: „Bis die Leute nicht mehr starren“
       
       Patricia Carl-Innig ist Vorsitzende im Bundesverband Kleinwüchsiger
       Menschen. Ein Gespräch über DDR-Zeiten, über Inklusion, Ehrenamt und
       Nachwuchs.
       
 (DIR) Behinderte Menschen in den Medien: Wenn Wörter zu Hürden werden
       
       Leidmedien.de engagiert sich gegen diskriminierende Sprache. Erste
       Verbesserungen stellen sich ein, am Ziel angelangt ist das Projekt aber
       noch nicht.