# taz.de -- Historikerin über Verschwörungstheorien: „Seife statt Schweiß“
       
       > Verschwörungstheorien sind eine Gegenbewegung zur Moderne, sagt die
       > Historikerin Hedwig Richter. Vor allem Männer würden stärker dazu neigen.
       
 (IMG) Bild: In Stuttgart war eine Kundgebung mit 500.000 Teilnehmern angemeldet, zugelasen waren 5.000
       
       taz: Frau Richter, Bill und Melinda Gates übernähmen die Weltherrschaft mit
       der Epidemie; Corona sei das Vehikel, um eine globale Impfpflicht zu
       etablieren; Corona überhaupt sei ein Werk der Weltzerstörung. Was sagen Sie
       als Demokratieforscherin zu diesen Gedanken und Theorien zur Pandemie? 
       
       Hedwig Richter: Der Blick in die Geschichte zeigt uns, dass es keinen Grund
       zur übermäßigen Besorgnis gibt. Mich interessiert vor allem, was
       Verschwörungstheorien für unsere Demokratie bedeuten.
       
       Und? 
       
       Demokratien leben vom Widerspruch und vom kritischen Geist der Bürgerinnen
       und Bürger. Aber das muss getragen sein von einem Grundkonsens, dass es bei
       aller Kritik fair zugeht und Regierungen, selbst wenn sie mir nicht passen,
       nicht dunkle Pläne der Weltherrschaft verfolgen. Überhaupt leben
       Demokratien stark von Vertrauen: Moderne Gesellschaften sind unglaublich
       kompliziert, niemand kann überall den Durchblick haben. Wir gehen fest
       davon aus, dass die Brücken stabil sind, dass wir im Alter eine Rente
       haben, dass die Chirurgin, die mich operiert, weiß, was sie tut.
       Verschwörungstheorien attackieren diesen Konsens: Sie glauben, dass hinter
       allem Böses steckt.
       
       Aber das zeigt uns doch, wie gefährlich Verschwörungstheorien sind. 
       
       Die Geschichte ist voll von Verschwörungstheorien. Bis weit ins 20.
       Jahrhundert prägten sie vielfach die Regierungspraxis. Heute aber sind sie
       – in den freien, demokratischen Gesellschaften – ein Minderheitenphänomen.
       
       Können Sie historische Beispiele nennen? 
       
       Der Antisemitismus etwa, die schrecklichste und wirkmächtigste aller
       Verschwörungstheorien, kam am brutalsten im Nationalsozialismus zum
       Ausdruck. Auch der Rassismus hat unsere Welt zutiefst geprägt: dass
       Menschen mit anderer als heller Hautfarbe den Untergang unserer „Rasse“
       bedeuten.
       
       Woher rührt die Neigung zum Verschwörerischen? 
       
       Immer geht es um die Reduktion von Komplexität – und um Selbstermächtigung.
       Verschwörungstheorien sind eine Reaktion auf Unsicherheit und Krisen. Das
       Wissen um böse Mächte, die im Hintergrund alles steuern, bedeutet ein
       großartiges Herrschaftswissen, weil sich damit alles erklären und verstehen
       lässt. Übrigens hat Karl Popper, der ja den Begriff der
       Verschwörungstheorie geprägt hat, darauf hingewiesen, dass Vertreter
       vulgärmarxistischer Lehren auch problematisch sein können, wenn sie „den“
       Kapitalismus hinter allem sehen und in einsamem Herrschaftswissen die
       verblendeten Massen zur Not mit Gewalt in die Freiheit führen wollen.
       
       Was sagt es über unsere demokratische Gesellschaft aus, dass manche partout
       die epidemiologische Vernunft nicht gelten lassen wollen? 
       
       Die Mehrheit hält die Aussagen von Expertinnen und Experten für wichtig und
       ist mit den Sicherheitsmaßnahmen einverstanden. Und auch hier lohnt sich
       der Blick in die Geschichte: Mit dem Aufkommen der Moderne und der
       Wissenschaft bot sich – grob zugespitzt – den Menschen ein neues
       Weltwissen: die Empirie. Nun gab es rationale Erklärungen. Aber die sind
       kompliziert: Hagel und Sturm sind keine göttlichen Zeichen, sondern,
       empirisch belegbar, Wetterphänomene.
       
       Gerade sehen wir, welche Herausforderung schon die Einordnung eines Virus
       bedeuten kann. Verschwörungstheorien sind im Kern eine Gegenbewegung zur
       Moderne. Sie sind die Auflehnung gegen die Kompliziertheit unserer Welt.
       Sie bieten ein holistisches Weltbild, alles kann auf einen Grund
       zurückgeführt werden. Die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts gaben sich
       zuweilen zwar wissenschaftlich, boten aber in ihren verqueren Lehren genau
       ein solches umfassendes Weltbild, das keine Fragen offen ließ.
       
       Waren und sind die Grundrechte in den letzten Wochen nicht wirklich bedroht
       – Verfassungsrechtler wiesen darauf hin? 
       
       Ich kann dieser Ansicht nichts abgewinnen. Wenn Ihnen Ihr Arzt sagt:
       Bleiben Sie im Bett!, fangen Sie doch auch nicht an, um Ihre Grundrechte zu
       bangen. Im Fall des Virus muss aber der Staat – anders als der Arzt – die
       Gesellschaft schützen, andernfalls würde er jede Legitimität verlieren.
       
       Sind es eher Männer oder Frauen, die an Verschwörungen glauben oder ihnen
       anhängen? 
       
       Umfragen zeigen, dass Männer stärker dazu neigen, auch wenn Frauen in
       bestimmten Nischen wie etwa der Impfgegnerschaft überrepräsentiert sind.
       Die Ursachen für den Geschlechter-Bias sind natürlich komplex. Die
       Veränderung der Geschlechterordnung wird immer von einigen als ungeheure
       Gefahr wahrgenommen. Wir befinden uns in einem solchen Umbruch. Die
       heftigen populistischen und rechtsextremistischen Bewegungen heutzutage
       würde ich als Backlashversuch einordnen.
       
       Wie begründen Sie Ihren Befund? 
       
       Die Mehrheit findet heutzutage die Ehe für Schwule und Lesben gut, Frauen
       sind Partei- und Regierungschefinnen – und so weiter. Es gibt natürlich
       noch viel zu tun, aber die wachsende Diversität unserer Gesellschaften ist
       historisch gesehen beachtlich – und wird daher von einigen Männern und auch
       manchen Frauen als tiefe Krise empfunden.
       
       Lassen sich Verschwörungsfantasien rational aus dem Weg räumen? 
       
       Das ist vermutlich schwierig. Einerseits ist Gelassenheit fast immer
       ratsam. Bei der Frage des Impfens aber wäre es womöglich gut gewesen, wenn
       es früher Aufklärungskampagnen gegeben hätte.
       
       Ein Philosoph wie Giorgio Agamben sieht angesichts von Corona nur noch ein
       diktatorisches, todweihendes Gesundheitsregime – Biopolitik der übelsten
       Sorte, nicht wahr? 
       
       Gesellschaftliche Änderungen spielen sich immer auch in den Körpern ab. Die
       Aufklärung kam nicht zuletzt einher mit der Ächtung der Folter, und
       irgendwann haben auch die letzten Demokratien verstanden, dass sich
       Rassismus nicht mit dem der Menschenwürde vereinen lässt.
       
       Die Geschichte der Demokratie ist tatsächlich auch die Geschichte eines
       sich wandelnden Körperregimes: Hunger, Kälte, Dreck und körperliche
       Schmerzen, die für fast alle Menschen selbstverständliche
       Alltagserfahrungen waren, sind einem Regime der Hygiene und des
       Sozialstaats gewichen. Gewalt ist gewiss nicht verschwunden, aber sie ist
       gesetzlich weitgehend tabuisiert. Das ist ein ungeheuerlicher
       Disziplinierungsprozess. Und zweifellos bedeutet es eine gewisse
       Entfremdung von der Natur: Seife statt Schweiß, Impfen statt heroischer
       Kampf mit der Natur, in dem die tüchtigen Babys schon überleben werden.
       
       22 May 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan Feddersen
       
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