# taz.de -- Währung stürzt ab: Türkei im perfekten Sturm
       
       > Die Lira verliert dramatisch an Wert. Die Türkei könnte deshalb das erste
       > Schwellenland sein, das an den Folgen von Corona wirtschaftlich
       > kollabiert.
       
 (IMG) Bild: Verliert drastisch an Wert: die türkische Lira
       
       Istanbul taz | „Angriff auf die Türkei“ oder „Dunkle Mächte greifen die
       türkische Lira an“ titelten regierungsnahe Zeitungen in den vergangenen
       Tagen, als die türkische Lira auf ein neues historisches Tief gegenüber dem
       Dollar absackte. Mehr als 7 Lira, zeitweilig bis zu 7,29 Lira müssen für
       einen Dollar seit Donnerstag vergangener Woche gezahlt werden. So viel wie
       noch nie zuvor.
       
       So steuert die Türkei auf ihre zweite Rezession binnen weniger als zwei
       Jahren zu. Selbst während der Währungskrise im August 2018 stand die Lira
       noch besser da. [1][Damals war der Grund für den Absturz] ein vehementer
       Streit mit den USA wegen der Geiselnahme eines US-Pastors, der mit der
       [2][Freilassung des Baptistenpredigers] gelöst wurde.
       
       Heute ist ein ganzes Bündel von Ursachen für den Absturz der Lira im
       Schatten der Corona-Krise verantwortlich, die weit schwieriger zu
       beseitigen sind als vor zwei Jahren. „Die Lira befindet sich in einem
       perfekten Sturm“, beschrieb [3][Thata Ghose, Analyst der Commerzbank in
       London die Situation der Financial Times]. Der Anlass für die Krise ist ein
       Schuldenberg von 170 Milliarden Dollar, den die Türkei an öffentlichen und
       privaten Schulden in diesem Jahr zurückzahlen muss. Internationale
       Finanzmanager wie Ghose oder Paul McNamara vom Hedgefond GAM sagten der
       Financial Times, sie sähen nicht, wie die türkische Regierung das stemmen
       könne.
       
       Während die Türkei bislang, was die Zahl der Toten und Infizierten angeht,
       noch relativ glimpflich durch die Corona-Krise gekommen ist, könnte sie nun
       das erste Schwellenland sein, das an den Folgen der Krise wirtschaftlich
       kollabiert.
       
       ## Einnahmen aus dem Tourismus dürften einbrechen
       
       Normalerweise zahlt die Türkei ihre Verbindlichkeiten mit Einnahmen aus
       ihren Exporten (zuletzt 180 Milliarden Dollar), durch Einnahmen aus dem
       Tourismus (zuletzt 36 Milliarden) und durch neue ausländische
       Investitionen, die frische Devisen ins Land bringen. In diesem Jahr sind
       die Exporte aber bereits um 40 Prozent eingebrochen.
       
       Zudem dürften die Einnahmen aus dem Tourismus dramatisch zurückgehen und
       neues Geld kommt nicht, weil die Zinsen auf Druck von Präsident Recep
       Tayyip Erdogan mittlerweile so niedrig sind, dass sie unter der
       Inflationsrate liegen. Jetzt rächt es sich, dass Erdogan in den vergangenen
       Jahren Milliarden in Großprojekte gepumpt hat, wie den [4][neuen Istanbuler
       Flughafen], der nun quasi still liegt. Oder Brücken, die niemand nutzt, für
       die die Regierung aber zahlen muss. Das letzte dieser Großprojekte ist ein
       neuer Kreuzfahrtterminal in Istanbul, an dem im April die ersten Schiffe
       anlegen sollten. Er liegt nun genauso brach wie der Flughafen.
       
       Der türkische Ökonom Baris Soydan hat am Dienstag auf der oppositionellen
       Website T24 durchgespielt, welche Optionen Erdogan und seinem
       Finanzminister und Schwiegersohn Berat Albayrak jetzt noch bleiben. Die
       Lage ist danach äußerst schwierig.
       
       ## Devisenreserven geschrumpft
       
       Die Devisenreserven der Zentralbank sind von 40 Milliarden Dollar Anfang
       des Jahres auf 28 Milliarden zusammengeschrumpft, weil die Bank mit
       Stützungskäufen vergeblich versucht hat, die Lira zu stabilisieren.
       
       Den Bittgang zum Internationalen Währungsfonds hat Erdogan aus politischen
       Gründen ausgeschlossen. Verhandlungen mit der US-Zentralbank über die
       Erweiterung sogenannter Swap-Kreditlinien, die klammen Staaten wie der
       Türkei Zugang zu Dollar-Bargeld ermöglichen würden, sind offenbar nicht
       positiv verlaufen. Die Voraussetzungen dafür wären eine unabhängige
       türkische Zentralbank und niedrige Inflation, beides sieht Washington als
       nicht gegeben an.
       
       China ist das einzige Land, das der Türkei derzeit unter die Arme greift.
       So wurde zuletzt eine Milliarde Dollar zur Verfügung gestellt. Soydan
       bezweifelt, dass Peking bereit ist, wesentlich mehr zu geben.
       
       Die Zentralbank könnte nun wie vor zwei Jahren die Zinsen dramatisch
       anheben, um neues Geld anzulocken. Das würde zwar den Lira-Kurs etwas
       stabilisieren und den Großkonzernen nutzen, die Dollarschulden zurückzahlen
       müssen. Aber gleichzeitig würde viele kleinere Unternehmen, die durch
       Corona bereits um ihre Existenz kämpfen, endgültig in die Pleite treiben.
       Der Gewerkschaftsdachverband DISK befürchtet schon jetzt, dass die
       Arbeitslosigkeit von 14 auf 20 Prozent steigen wird. Außerdem könnten
       zusätzlich 8 Millionen Menschen arbeitslos werden.
       
       Die einzige Möglichkeit, frisches Geld zu beschaffen, sieht Soydan in der
       Ausgabe neuer Staatsanleihen. Dafür müssten aber extrem hohe Zinsen gezahlt
       werden, damit sie erfolgreich am Kapitalmarkt platziert werden können.
       Bleibt noch eine Möglichkeit, die zwar offiziell ausgeschlossen wird, nach
       Meinung von Paul McNamara aber nicht vom Tisch ist: Die Einführung von
       Devisenkontrollen. Damit würden die Devisen zwar im Land bleiben, die
       Türkei sich aber zumindestens vorübergehend aus dem internationalen Handel
       verabschieden. Auch das bedeute: Hohe Arbeitslosigkeit und zunehmende
       Armut.
       
       12 May 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Wirtschaftspolitik-in-der-Tuerkei/!5606488
 (DIR) [2] /Freilassung-von-Pastor-Andrew-Brunson/!5542698
 (DIR) [3] https://www.ft.com/content/1ed7e730-f77b-46c6-ae2b-a61f0532806e
 (DIR) [4] /Dossier-Flughafen-Istanbul/!5586485
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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