# taz.de -- Proteste im Libanon: Zurück auf die Straße
       
       > Der Libanon leidet unter der schlimmsten Wirtschaftskrise seiner
       > Geschichte, Proteste gab es schon im Herbst. Jetzt flammt die Revolution
       > erneut auf.
       
 (IMG) Bild: Sie sind wieder da: Protestierende fahren im April mit dem Auto durch die Straßen von Beirut
       
       Willkommen im Libanon“, sagt der Verkäufer im Supermarkt vor dem Kühlregal
       ironisch. Der Preis für 500 Gramm Labneh, ein streichbarer Frischkäse, ist
       im April von 3.500 Lira auf knapp 7.000 gestiegen. Milch, Reis und Zucker
       kosten ebenfalls fast das Doppelte. Von einer Straßenkreuzung in Beiruts
       Süden dröhnt Musik bis zum Supermarkt herüber. Zwischen Tankstelle und
       Burger King haben sich ein paar Menschen versammelt. Manche tragen
       Mundschutz, einige haben die libanesische Flagge umgeschlungen.
       Ghettoblaster sind auf einem weißen Van montiert, „wir sind die Revolution“
       dröhnt es aus ihnen. Ein Auto blockiert die Straße, knapp 50 Menschen haben
       sich versammelt, um sie herum stehen einige Militärs.
       
       Es ist ein Donnerstagabend in Beirut, kurz vor 20 Uhr. Um diese Zeit
       beginnt eigentlich die strikte Ausgangssperre – die gilt, um die
       Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Am 15. März hat die Regierung
       den Lockdown verhängt.
       
       Doch seit Ende April weigern sich Hunderte Menschen, am Abend in ihren
       Häusern zu bleiben. Sie durchleben die schwerste Wirtschaftskrise des
       Landes. Einige sagen, so schlimm sei es nicht einmal während des
       Bürgerkriegs zwischen 1975 und 1990 gewesen. Das Land ist bankrott, die
       Staatsschulden betragen knapp 170 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nicht
       erst durch das ausbleibende Geschäft in der Coronakrise, sondern bereits
       vorher haben viele Libanes:innen ihre Jobs wegen der stagnierenden
       Wirtschaft verloren. Gleichzeitig sinkt der Wert der Währung im Vergleich
       zum US-Dollar – die Lira hat in den vergangenen Monaten mehr als die Hälfte
       ihres Werts eingebüßt. Weil das Land kaum etwas selbst produziert und auf
       Importe von Mehl, Benzin und Tabletten angewiesen ist, steigen die
       Lebenshaltungskosten.
       
       Taxifahrer, migrantische Arbeiter:innen und die vielen Arbeitslosen – sie
       alle sind trotz der Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus wieder auf den
       Straßen. Ihre Proteste sind die verzweifelte Wiederaufnahme der
       libanesischen Thawra, der Revolution, die im Oktober 2019 begann. Das Ziel
       von Anfang an: eine Generalüberholung des politischen Systems, weg vom
       konfessionell-oligarchischen Postengeschacher hin zu einer Vertretung, die
       tatsächlich Bürger:inneninteressen im Sinn hat.
       
       Auch an diesem Text ist die Coronapandemie nicht spurlos vorübergegangen.
       Er entstand zu unterschiedlichen Zeiten, in verschiedenen Phasen und musste
       deshalb immer wieder nachjustiert werden. Daraus ist eine Chronik geworden,
       die die drei Hauptphasen der Proteste skizziert, und die die Veränderungen
       zeigt: die Partyphase im Herbst, die Phase von Gewalt und Resignation im
       Winter und die jüngste, wütendste in Zeiten von Corona.
       
       ## Party im Herbst
       
       Am 17. Oktober, einem Donnerstag, gehen spontan Hunderte Menschen in Beirut
       auf die Straße, sie zünden Reifen und Müllcontainer an. Ihre Wut richtet
       sich gegen eine angekündigte Steuer auf den Nachrichtendienst Whatsapp –
       eine von vielen Austeritätsmaßnahmen, die vor allem die arme Bevölkerung
       treffen. Schnell weiten sich die Proteste im ganzen Land aus, klagen die
       Misswirtschaft und Korruption der Politiker an, die den Libanon in den
       finanziellen Ruin getrieben haben. Die Demonstranten fordern bezahlbare
       Bildung, ein öffentliches Nahverkehrssystem, sauberes Leitungswasser und
       eine stabile Stromversorgung.
       
       Auf Tripolis Platz des Lichts legt ein DJ auf, in Beiruts Innenstadt
       campieren junge Menschen auf Matratzen und in Zelten. In Downtown, sonst
       ein Ort für die Schickeria, blubbern Menschen auf Plastikstühlen
       Wasserpfeifen. Die Libanes:innen nehmen die Straßen ein. Schätzungen
       zufolge sollen es an manchen Tagen bis zu 2 Millionen Menschen sein –
       angesichts einer Bevölkerung von 6 Millionen Einwohner:innen eine
       atemberaubende Zahl.
       
       Wenn sie an diese ersten Tage der Aufstände zurückdenkt, lächelt Zahraa
       Mahmoud. Sie möchte mit ihrem richtigen Namen nicht in der Zeitung stehen,
       auch nicht in einer deutschen. Sie arbeitet für eine deutsche Organisation
       in Beirut und hat die Revolution von Beginn an unterstützt. In den ersten
       Tagen stand sie neben Hunderttausenden anderen auf dem Märtyrerplatz in
       Beirut Downtown. „Ich war so enthusiastisch. Wir alle haben gespürt, dass
       es unser Ärger ist, der uns auf die Straße treibt, unsere Wut.“
       
       Auch gegen das politisch-konfessionelle System, das den Libanon
       paralysiert, waren sie losgezogen. 30 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs ist
       das Land noch immer gespalten. Grenzen verlaufen entlang ethnischer
       Gruppen, Konfessionen, religiöser Communitys.
       
       Mahmoud, die dunklen Locken hinter die Ohren gedrückt, sagt: „Viele junge
       Menschen haben das längst hinter sich gelassen, sie sind alle auf die
       Straße gegangen. Aber auch die, die sich eigentlich noch einer Gruppe
       zugehörig fühlen, haben das ignoriert und sich den Protesten
       angeschlossen.“ Tagelang habe man keine Flaggen der verschiedenen Gruppen
       und Bewegungen gesehen, keine der schiitischen Hisbollah, der christlichen
       libanesischen Kräfte und der Zukunftsbewegung von Premier Saad Hariri.
       Stattdessen überall nur ein bestimmtes Stück Stoff: ein grüner Zedernbaum
       auf weißem Grund, die libanesische Flagge. „Wir haben uns als Libanesen
       vereint gefühlt, niemand hat mehr von seiner Religion oder Community
       gesprochen.“
       
       Im Libanon leben 18 anerkannte Religionsgemeinschaften, darunter
       sunnitische und schiitische Muslime, maronitische Christen und Drusen. Das
       politische System ist entlang dieser religiösen Communitys ausgerichtet.
       Deren Vertreter haben umfangreichen Einfluss auf das Personenstandsrecht,
       Erbrecht und Bildungseinrichtungen. Das Wahlsystem regelt kleinteilig den
       Proporz und sichert jeder Gruppe einen Teil der Macht. Der Präsident ist
       immer ein Christ, der Regierungschef Sunnit und der Parlamentssprecher
       Schiit. Zivilgesellschaftliche Vorstöße zu Reformen dieser Gesetze wurden
       immer mit dem Argument abgetan, sie würden die fragile Balance nach dem
       Bürgerkrieg ins Wanken bringen.
       
       Zahraa Mahmoud lebt in Beirut, ihre Familie stammt aus dem schiitisch
       geprägten Süden des Libanon. Die Seite der Mutter unterstützt die
       schiitische Amal-Bewegung, die des Vaters die Schwesterbewegung Hisbollah.
       Der Vater brach mit der Hisbollah, seinen Kindern habe er vor seinem Tod
       wieder und wieder gesagt: „Hört nie auf, zu zweifeln. Hinterfragt alles,
       bleibt kritisch.“ Sie habe das verinnerlicht, sagt Zahraa Mahmoud. Während
       der Proteste hat sie ihr Gesicht in die warme Spätsommersonne gehalten, das
       Ziel klar vor Augen: ein nichtkonfessionelles politisches System, eine
       Regierung aus Expert:innen, die sich nicht aus den traditionellen Gruppen
       speisen.
       
       Denn diese Spaltung anhand religiöser Linien half den Politiker:innen, die
       Macht wie Kuchenstücke untereinander aufzuteilen. Korruption zieht sich
       durch die staatlichen Institutionen, die politische Elite ist eng mit den
       Wirtschaftsbossen und Banken verbandelt. Seit 30 Jahren dominiert eine
       neoliberale Wirtschaftspolitik, die es wohlhabenden Anleger:innen
       ermöglichte, ihr Geld zu hohen Zinsen anzulegen und vor allem die ärmeren
       Schichten belastete.
       
       Die Massendemonstrationen zwingen Saad Hariri, der diese Politik
       verkörpert, Ende Oktober zum Rücktritt.
       
       ## Gewalt und Resignation im Winter
       
       Dann verschwindet die milde Herbstsonne. Im Januar und Februar regnet es in
       Beirut, oft und heftig. Über den Bergen rund um die Hauptstadt brauen sich
       Gewitter zusammen, deren Donner lautstark durch die engen Häuserreihen
       hallt. In die friedlichen Proteste mischen sich jetzt immer öfter auch
       gewaltvoller Ärger und Wut, worauf Polizei und Armee mitunter brutal
       reagieren. An einem Wochenende Ende Januar werden bis zu 700 Menschen
       verletzt. Protestierende retten sich in eine Moschee, die
       Bereitschaftspolizei setzt Tränengas ein.
       
       Ein kalter Tag Ende Februar. Neben einem krumm gewachsenen Baum stehen zwei
       Lautsprecherboxen. Der Stamm ragt durch eine Holzkonstruktion, über die
       sich eine Zeltplane spannt. Sie schützt vor den dicken Regentropfen, die
       auf die Straße prasseln. Unter dem Zelt sitzen Männer und Frauen mit
       zugezogenen Winterjacken in einem Kreis aus Holzbänken. Die nasse Kälte hat
       sie nicht abgehalten, auf den Platz des Lichts in Tripoli, der zweitgrößten
       Stadt des Libanon, zu kommen. Der 29-jährige Obeida Takriti stellt sich mit
       seinen knallroten Turnschuhen vor die Stadtbewohner:innen, nimmt das
       Mikrofon und fragt: „Was würdet ihr euren Brüdern gern mitgeben?“
       
       Der Platz des Lichts, der zum Symbol der Proteste wurde, liegt an diesem
       Tag dunkel da, außerhalb des Zelts ist alles ruhig. Obeida Takriti stört
       das nicht, er macht weiter, auch wenn die Massen längst wegbleiben.
       Gemeinsam mit Freund:innen hat er das Zelt Musaha al-Saha aufgebaut, was so
       viel heißt wie: der Raum und der Platz.
       
       Dort treffen sich jeden Abend Stadtbewohner:innen, um über die
       Proteste, ihre Wünsche, Hoffnungen und Forderungen zu sprechen. An diesem
       Abend geht das Mikrofon reihum, und die Menschen erinnern sich, warum sie
       auf der Straße sind, geben sich gegenseitig Kraft. „Ich liebe euch“ –
       „Morgen wird alles besser, versprochen.“
       
       Laut einer Studie der Vereinten Nationen lebten schon im Jahr 2015 mehr als
       die Hälfte der Einwohner:innen von Tripoli unter der Armutsgrenze. Mit
       der Wirtschaftskrise haben noch mehr Menschen ihre Jobs verloren. In der
       traditionell konservativeren und ärmlicheren Stadt ist das Leid größer als
       in der Hauptstadt Beirut. Und trotzdem kommen auch hier immer weniger
       Menschen zu Takritis Veranstaltungen.
       
       Wir fragen nach bei Diana Kallas, Politikexpertin bei der libanesischen
       Bürgerorganisation Kulluna Irada, auch dieses Telefonat findet im Februar
       statt: „Es ist hart, Menschen über Monate hinweg zu halten, das ist kaum
       einer Revolution jemals geglückt“, sagt sie. „Es ist Winter, viele Leute
       werden krank, weil auch die Wohnungen wegen der schlechten Stromversorgung
       kalt sind. Dann geht man nicht auch noch auf die Straße.“ Sie selbst sei
       fast einen Monat lang krank gewesen. Die anfängliche Euphorie sei
       verschwunden und der Ernüchterung gewichen. „In dieser Stimmung dann die
       Zahlen vom Anfang zu halten, ist eine extrem harte Aufgabe.“
       
       Außerdem passiert im Winter auch politisch etwas: Auf Ministerpräsident
       Saad Hariri folgt im Januar Hassan Diab, ein ehemaliger Bildungsminister
       und Professor für Ingenieurswissenschaften. Aber schnell wird klar: Die als
       Neuanfang angepriesene technokratische Regierung ist in erster Linie eine
       Ansammlung von Namen und Doktortiteln aus der zweiten Reihe. Die Mehrheit
       sind zwar Professor:innen, aber dennoch mit der alten Elite verbandelt.
       
       Doch immerhin: eine neue Regierung. Dass manche Menschen trotzdem unbeirrt
       weiter protestiert hätten, habe sie nicht verstanden, sagt Zahraa Mahmoud.
       Die 28-Jährige vereint viele der Gründe, warum so viele Menschen aufhörten
       zu demonstrieren. Sie habe sich etwa gefragt, ob der Aufstand nicht schon
       zum Selbstzweck geworden sei.
       
       Überhaupt, all die Fragezeichen: Wieso berichteten die Medien mal mehr, mal
       weniger über die Revolution? Wieso sah man plötzlich doch wieder Flaggen
       der alten Parteien? Gab es ausländische Kräfte, die versuchten, die
       Revolution zu kapern? Wenn die Wirtschaft zusammenschmilzt, wäre es nicht
       besser, das System zumindest so lange zu stützen, bis das Schlimmste
       überstanden ist?
       
       Fragen, die widerspiegeln, wie misstrauisch viele Libanes:innen wurden, je
       länger die Proteste dauerten. Kaum verwunderlich in einem Land, in dem die
       von Iran finanzierte Hisbollah sich als Verteidigerin der iranischen
       Außengrenzen gegen Israel positioniert. In dem die Unternehmer- und
       Ministerpräsidentenfamilie Hariri ihren Reichtum in Saudi-Arabien gemacht
       hat und der saudische König den Regierungschef Saad Hariri im November 2017
       zum Rücktritt zwingen konnte – bis Frankreich intervenierte. In dem
       Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah davor warnt, die USA würde das Land durch
       Einflussnahme ins Chaos stürzen, und in dem ein paar aristokratische
       Familien nicht nur die Parteipolitik beherrschen, sondern auch die
       Medienlandschaft.
       
       Immer mehr Fragen, immer mehr ausbleibende Antworten. „Letztlich bin ich zu
       dem Schluss gekommen, dass ich es nicht rechtfertigen kann, das Land nur zu
       paralysieren“, sagt Mahmoud. Sie blieb zu Hause.
       
       Politikberaterin Diana Kallas sagt: „Man darf nicht unterschätzen, wie
       viele Menschen eher pragmatisch als idealistisch denken. Sie haben nicht
       das große politische Bild gesehen, sondern die kurzfristigen Folgen.“
       Außerdem halte das eng gefasste Verständnis von Politik in der
       libanesischen Gesellschaft viele von mehr Partizipation ab. „Wenn sich
       jemand als politisch versteht, bedeutet das hier meistens, er ist Mitglied
       in einer Partei. Auf der anderen Seite wehren Leute jede Verbindung zu
       Politik ab, wenn sie keiner Partei zugeordnet werden wollen. Sie sagen
       dann: ‚Ich bin doch keinesfalls eine politische Person, schließlich bin ich
       in keiner Partei!‘“ Es brauche dagegen Menschen, die bereit seien, sich
       als politisch zu verstehen, ohne sich dieser Definition zu beugen.
       
       Einer dieser Menschen ist Hiba Farhat. Es ist Anfang März, sie schlägt vor,
       sich direkt bei einer Veranstaltung im „Ei“ zu treffen, einer schwarzen,
       raumschiffartigen Ruine direkt neben der Al-Amin-Moschee und dem
       Märtyrerplatz in Beirut. Das Ei sollte einst ein Kino werden. 1965 begannen
       die Bauarbeiten, wegen des Bürgerkriegs wurde es nie fertiggestellt. Seit
       dem Ausbruch der Proteste finden im Ei immer wieder Veranstaltungen statt,
       Lesungen, Diskussionen, Technopartys. An diesem Abend geht es um die
       libanesische Lira, deren Wert schon zu dieser Zeit dramatisch einbricht.
       Hunderte Menschen sind gekommen. Erst in ein paar Tagen wird es die ersten
       Corona-Einschränkungen geben.
       
       Farhat ist seit dem ersten Tag der Revolution dabei. Auf ihrem Handy öffnet
       sie Whatsapp und andere Chatprogramme, sie ist Mitglied in so vielen
       Gruppen, dass es unmöglich scheint, den Überblick zu behalten. Facebook hat
       Farhat schon ausgestellt, zu viel prasselte da auf sie ein. Sie selbst
       gehört zu keiner der zahlreichen Bewegungen, die sich während der Proteste
       gegründet haben, aber sie vernetzt sie miteinander. Li Haqqi, eine
       Jugendorganisation, mit der Kommunistischen Partei, mit dem Nationalen
       Block, mit „Citizen in a state“, Bürger im Staat. All diese Gruppen
       verbindet: Sie haben politische, keine konfessionell-oligarchischen Ziele.
       Sie wollen ein politisches System, das unabhängig von den alten Verbünden
       funktioniert.
       
       Ein bisschen hat sie sich über die Menschen geärgert, die im Januar und
       Februar nicht mehr auf die Straße gingen, sagt Farhat. „Natürlich haben
       andere versucht, die Revolution für sich zu vereinnahmen, das ist doch nur
       logisch.“ Vor allem die Parteien, die nicht Teil der alten Regierung waren,
       hätten sich mit den Menschen auf der Straße solidarisiert, um auf diese
       Weise neue Machtoptionen auszuloten. Darum sponserten sie Bühnen für
       Redner:innen, und natürlich habe man darum auch die alten Flaggen
       wiedergesehen. „Aber genau deshalb muss man weiter hingehen und sagen: ‚Das
       ist meine, das ist unsere Revolution, und die bekommt ihr nicht‘.“
       
       Farhat ist 31 Jahre alt und sieht an diesen ersten Märztagen aus wie
       jemand, der dringend Schlaf braucht. Ihre Haare fallen aus einem achtlos
       zusammengebundenen Zopf auf ihre Schultern, sie wirkt blass und ausgezehrt.
       „Ich bin wahnsinnig erschöpft“, sagt sie wie zur Bestätigung. Zweimal habe
       sie während der Proteste ins Krankenhaus gemusst, weil sie vor Entkräftung
       nicht mehr konnte. „Man unterschätzt die körperliche und emotionale
       Belastung.“
       
       Hiba Farhat und Diana Kallas sind sich damals einig: Die Revolution war nie
       vorbei, und sie ist es auch jetzt nicht. Als die Massen auf den Straßen
       wegblieben, sei eine Hinter-den-Kulissen-Revolution entstanden. Sie bekomme
       jetzt mehr Substanz im Hintergrund. Und baue so eine politische Alternative
       auf, einen Gegenentwurf zu den Parteien, die von den alten Eliten gesteuert
       werden.
       
       ## In Zeiten von Corona
       
       Am 21. Februar wird der erste Coronafall im Libanon bekannt. Seit dem 15.
       März bleiben die Menschen zuhause. 750 Coronafälle gibt es im Land
       offiziell, doch getestet wird nur wenig. Das berühmte Nachtleben im
       Beiruter Viertel Hamra steht still. Die Menschen halten sich zunächst an
       die Einschränkungen, wohl auch, weil sie wissen, dass das marode
       Gesundheitssystem einem massiven Coronaausbruch kaum standhalten könnte.
       
       Doch dann gehen am Abend des 16. April, einem Donnerstag, in Tripoli
       plötzlich wieder Menschen auf die Straße, trotz Ausgangssperre. Sie stehen
       eng beieinander, singen und rufen: „Wir sterben lieber durch Corona als
       durch Hunger.“ Es geht einfach nicht mehr.
       
       In der zweitgrößten Stadt des Landes lebt die Revolution wieder auf.
       Protestierende und die Armee liefern sich Ende April Auseinandersetzungen,
       bei denen ein 26-Jähriger von einem Sicherheitsbeamten erschossen wird.
       Aktivist:innen erklären ihn zum Märtyrer der Revolution, Hunderte Menschen
       kommen zu seiner Beerdigung, einige greifen während der Trauerprozession
       nahe gelegene Bankfilialen an.
       
       Auch in anderen Teilen des Landes kehren die Menschen auf die Straßen
       zurück. Mit Autos fahren sie aneinandergereiht durch Beirut, um ihre Wut
       auszudrücken, aber gleichzeitig die Abstandsregeln einzuhalten. Ende April
       blockieren Protestierende die Hauptverkehrsader des Landes mit brennenden
       Reifen. Aufständische werfen Molotowcocktails in Bankfilialen in Beirut und
       Tripoli.
       
       Zahraa Mahmoud entschuldigt sich für ihren Pessimismus, jetzt Anfang Mai am
       Telefon. „Es ist schlimmer denn je. Die Menschen haben nichts mehr zu
       verlieren.“ Sie selbst trifft es noch gut, doch „es bricht mir das Herz zu
       sehen, wie meine Freunde ihre Jobs verlieren und von 100 oder 200 Dollar im
       Monat leben müssen.“ Wie alle anderen ihrer Generation denke sie darüber
       nach, das Land zu verlassen. „Ich würde keine Möglichkeit ablehnen.“ Zu den
       Protesten zurückkehren will sie nicht. „Es wird sich nichts ändern. Die
       gleichen korrupten Politiker bleiben an der Macht, ich habe die Hoffnung
       aufgegeben. Aber klar, würde es mir schlechter gehen, müsste ich es ja
       tun.“
       
       Am 1. Mai öffnen – trotz des Feiertags und dem Verbot der Regierung – viele
       Gemüsehändler in Tripoli wieder ihre Geschäfte.
       
       Hiba Farhat sagt: „Man kann nicht von Menschen verlangen, dass sie zuhause
       bleiben, während sie hungern. Die Regierung tut nichts, um ihnen zu helfen,
       absolut nichts.“ Auch jetzt noch sitzt ihr Optimismus tief, und er ist
       stärker als die Zweifel vieler anderer. „Es wird Chaos auf uns zukommen.
       Aber wenn Corona vorbei ist und die Menschen vom Oktober zurückkehren,
       werden sie den Unterschied machen.“
       
       Julia Neumann, 28, lebt und arbeitet als freie Korrespondentin in Beirut. 
       
       Hanna Voß, 29, ist Redakteurin der taz am wochenende. Vom Januar und bis
       Mitte März war sie mit dem Nahoststipendium der Internationalen
       Journalistenprogramme (IJP) in Beirut.
       
       9 May 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hanna Voß
 (DIR) Julia Neumann
       
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