# taz.de -- Geflüchtete an der EU-Außengrenze: Welch kalte Sprache!
       
       > An der EU-Außengrenze ist die Lage dramatisch. Den Politiker Christian
       > Lindner bewegt dabei nur ein angeblicher „Kontrollverlust“ Deutschlands.
       
 (IMG) Bild: In seiner Sprache werden die Geflüchteten zu störenden Objekten: Christian Lindner
       
       Man könnte als Spitzenpolitiker über vieles sprechen, angesichts der
       dramatischen Bilder von der [1][griechisch-türkischen Grenze].
       
       Man könnte über Kinder sprechen, die von ihren weinenden Eltern aus
       Tränengaswolken getragen wurden. Oder über ein Kind, das vor der Küste von
       Lesbos ertrank.
       
       Man könnte über ein Schiff der griechischen Küstenwache sprechen, das an
       einem Schlauchboot voller Geflüchteter vorbeirauschte, mit voller Absicht
       und gefährlich nah.
       
       Man könnte über die Idee der griechischen Regierung sprechen, mal eben das
       Asylrecht auszusetzen, was die Genfer Flüchtlingskonvention unterläuft.
       
       Man könnte über Erdoğans Dreistigkeit sprechen, über das [2][europäische
       Versagen] in der Flüchtlingspolitik oder über das Angebot deutscher
       Kommunen, Geflüchtete aufzunehmen.
       
       Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner entschied sich am Montag anders. Er
       sprach vor allem über eines, nämlich über eine sehr deutsche
       Befindlichkeit. Die Kanzlerin habe versprochen, „dass sich ein
       Kontrollverlust wie 2015 nicht wiederholt“, schrieb Lindner auf Twitter, wo
       ihm über 380.000 Menschen folgen.
       
       Daran würden sie, der Innenminister und die Unionsparteien gemessen. „Die
       Bilder und Nachrichten aus Griechenland zeichnen mitnichten das Bild einer
       kontrollierten Lage.“ Meinte Lindner und fügte hinzu, dass es „zur
       Reduzierung der Migrationsbewegungen“ hilfreich wäre, wenn Merkel
       öffentlich sage, „dass es eine unkontrollierte Einreise nach Deutschland
       nicht mehr gibt“. Das war also Lindners Sorge angesichts des Dramas an der
       EU-Außengrenze: Unordnung im warmen, gemütlichen Deutschland.
       
       Was zuallererst auffällt, ist die kalte, technokratische Sprache.
       „Kontrollverlust“. „Gemessen“. „Reduzierung der Migrationsbewegungen“.
       Lindner hält sich das Leid von Menschen mit seltsam unkonkreten
       Substantiv-Ungetümen vom Leib. Der Politiker spricht offensichtlich nicht
       über Hilfsbedürftige oder eher: Er will es nicht tun. In seiner Sprache
       werden die Geflüchteten zu störenden Objekten.
       
       Das ist keine Kleinigkeit. Sprache setzt sich in den Köpfen fest, sie
       schafft Realität. Die AfD liebt es, wenn andere über einen angeblichen
       drohenden Kontrollverlust reden, aus naheliegenden Gründen.
       
       Lindner ist mit seiner Furcht vor dem Gestern und der Fixierung auf
       Deutschland nicht allein. Merkel hat in den vergangenen Jahren gefühlt
       tausend Mal gesagt, dass sich eine Situation wie 2015 nicht wiederholen
       dürfe. CDUler, Sozialdemokraten und selbst Grünen-Chefin Annalena Baerbock
       warnen im Moment davor. Sie wollen die Deutschen beruhigen, aber vermutlich
       erreichen sie das Gegenteil. Ein Fokus auf die Vergangenheit ist nicht
       geeignet, um ein gutes Morgen zu beschreiben.
       
       ## Imaginierter Kontrollverlust
       
       Deutschland hat den – kurzfristigen und nicht zu leugnenden – Verlust der
       Kontrolle im Jahr 2015 bekanntlich sehr gut überstanden. Dem Land geht es
       blendend, vielen Menschen wurde geholfen. Vor allem aber gilt: Was heute an
       der türkisch-griechischen Grenze passiert, lässt sich mit 2015 nicht
       vergleichen, auf mehreren Ebenen nicht. Den Kontrollverlust, den Lindner
       und andere imaginieren, gibt es nicht.
       
       Nähme Deutschland zum Beispiel 7.000 Kinder samt ihren Eltern aus dem
       Flüchtlingslager Moria auf, wäre dies nicht nur eine humanitäre Geste und
       eine Entlastung des griechischen Staates. Es wäre auch ein überschaubares,
       leicht zu handhabendes Kontingent. Der Staat wüsste dieses Mal, wer kommt.
       Er wäre vorbereitet, die Strukturen für Hilfe sind da. Viele deutsche
       Kommunen bieten ihre Hilfe gerade an. Politiker, die jetzt vor
       Kontrollverlust warnen, handeln verantwortungslos, weil sie Panik schüren.
       
       Sehr angebracht wäre es allerdings, über die wahren Kontrollverluste zu
       sprechen. Griechenland, ein EU-Staat, verweigert gerade Menschen ihr Recht,
       einen Asylantrag zu stellen. Das ist ein kalkulierter, von anderen
       EU-Staaten geduldeter Rechtsbruch. Mitmenschlichkeit? Anstand? Gültigkeit
       des Rechts, auch in schwierigen Zeiten? Erdoğan muss nur ein paar
       Reisebusse mit Geflüchteten losschicken, schon wirft die EU all ihre Werte
       über Bord.
       
       Ein Kontrollverlust ist es, wenn auf Lesbos Rechtsextreme patrouillieren.
       Ein Kontrollverlust ist es, wenn Polizisten dulden, dass Journalisten
       bedroht werden. Wenn die Küstenwache dabei zusieht, wie ein Flüchtlingsboot
       manövrierunfähig auf dem Meer treibt. Oder wenn Grenzschützer
       Tränengasgranaten auf Kinder schießen.
       
       Anders gesagt: Wer angesichts der aktuellen Krise der EU über 2015
       schwadroniert, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.
       
       3 Mar 2020
       
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