# taz.de -- Kurdische Politikerin in Haft: „Manche denken, wir sollten ins Grab“
       
       > Figen Yüksekdağ, ehemals Co-Vorsitzende der HDP, über Angriffe auf ihre
       > Partei, Zwangsverwaltungen und Parteigründungen ehemaliger AKP-Politiker.
       
 (IMG) Bild: Figen Yüksekdağ als Co-Vorsitzende der HDP kurz vor den Wahlen 2015, wo die HDP 13 Prozent holte
       
       taz.gazete: Frau Yüksekdağ, wie sind die Haftbedingungen in Ihrem
       Gefängnis? 
       
       Figen Yüksekdağ: In letzter Zeit kommt es in der Türkei immer wieder zu
       Menschenrechtsverletzungen. Die Vorfälle machen klar, wie schlecht die
       Haftbedingungen sind. Das wirkt sich auch auf meine Haft aus. Manchmal
       bekomme ich wegen der Verleumdungen und Anfeindungen der Regierung meiner
       Partei gegenüber besonders viel ab.
       
       Wie zeigt sich das in Ihrem Fall konkret? 
       
       Manchmal gibt es Provokationen der Vollzugsbeamten, die entweder dazu
       gedrängt werden oder provozieren, weil sie selbst auf Regierungslinie sind.
       Oder es kommt zu sogenannten „Sonderbehandlungen“. Bevor ich und andere aus
       der Partei verhaftet worden sind, hieß es noch: „Was haben die im Parlament
       verloren? Die sollten ins Gefängnis“. Jetzt denken manche: „Was haben die
       im Gefängnis verloren? Die sollten ins Grab.“
       
       Wieso steht die HDP so sehr unter dem Beschuss der Regierung? 
       
       Die politische Repression ist vielschichtig und ernst zu nehmen. In den
       vergangenen drei Jahren wurden rund 10.000 HDP-Mitglieder verhaftet. Es
       gibt fast keine freien Menschen mehr in der Partei, und politische Rechte,
       die ohnehin schon prekär waren, wurden vollends liquidiert. Für die
       Regierenden ist das ein alternatives Mittel der Druckausübung, bei der sie
       nicht gleich die Partei verbieten müssen. Sie wollten, dass die HDP
       Verluste erleidet. Aber das ganze Land hat dadurch verloren. Und sie selbst
       haben nicht gewonnen. Bei den vergangenen Kommunalwahlen hat sich gezeigt,
       dass die Regierung und Erdoğan die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit
       verloren haben. Sie haben sich vollständig vom Boden des Demokratischen
       entfernt, sie akzeptieren die Niederlage nicht und versuchen den Schmerz
       mit Repression gegen die HDP und HDP-Wähler*innen zu kompensieren. Dass
       Städte unter Zwangsverwaltungen gestellt werden, dass
       Co-Bürgermeister*innen unrechtmäßig und ohne Beweise verhaftet werden, ist
       ein Resultat dieser Intoleranz. Allein die Existenz der HDP gilt dieser
       Regierung als Bedrohung.
       
       Sie waren drei Jahre lang Co-Vorsitzende der HDP. Wieso stört sich die
       Regierung daran, dass Ihre Partei Co-Vorsitzende hat, also jeweils eine
       Frau und einen Mann an der Spitze?
       
       Weil dieses System einen radikalen Widerspruch zu dem bestehenden
       Regierungssystem und eine konkrete Alternative darstellt. Für repressive,
       faschistische, patriarchale und religiös-regressive Politik stellt so ein
       Modell ein Problem dar. Dass es bei der HDP immer zwei Vorsitzende gibt,
       eine Frau und einen Mann, ist ein Hoffnungsschimmer, ein Schritt, der die
       gesellschaftliche Stellung der Frau gestärkt hat. Millionen von Frauen
       können sich mit dieser egalitären Form der Repräsentation identifizieren.
       In der Welt der Frauen ist es ein Symbol für einen großen politischen
       Aufbruch. Die gegenwärtig Regierenden und jene, die mit ihnen ideologisch
       übereinstimmen, wollen die Macht der Frauen, die sich in den Reihen der HDP
       entfaltet hat, ausradieren.
       
       Es wird derzeit darüber diskutiert, ob sich die HDP wegen der Repressionen
       aus dem Parlament zurückziehen sollte. 
       
       Die Partei hat mit der Bevölkerung und in den eigenen verantwortlichen
       Gremien diskutiert und sich dafür entschieden, alle Posten, die sie durch
       Wahlen erhalten hat, weiterhin zu besetzen. Eine Diskussion darüber, ob man
       sich aus dem Parlament zurückzieht, findet deshalb nicht mehr statt. Wir
       wollen die Wirkung unseres politischen Kampfes an den Orten unserer
       täglichen Arbeit, in den Stadtverwaltungen und im Parlament verstärken.
       Diejenigen, die uns auf kommunaler und nationaler Ebene aus der Politik
       haben wollen, sollten sich einmal überlegen, was sie verlieren würden, wenn
       die HDP nicht mehr da wäre.
       
       Aber was können Ihre Wähler*innen in der gegenwärtigen Situation erwarten? 
       
       Die Bevölkerung selbst ist entschiedener als die HDP, die Menschen sind
       wirkmächtig. Aber sie erwarten eine Führung, die ihre Forderungen lautstark
       artikuliert. Trotz des gewaltigen Ausmaßes an Diskriminierung gegenüber
       Kurd*innen und der HDP ist eins klar geworden: Diejenigen, die gegen
       Erdoğan gewinnen wollen, müssen zuerst die Kurd*innen und die HDP für sich
       gewinnen. Die HDP muss sich von den Parteien der Mitte unterscheiden,
       zuverlässig sein und die Demokratie für alle ins Zentrum rücken. Die HDP
       möchte den Kurdenkonflikt lösen, aber auch alle anderen Probleme, die von
       der AKP und den Zentrumsparteien ignoriert oder verschärft werden.
       
       Der ehemalige AKP-Wirtschaftsminister Ali Babacan und Ahmet Davutoğlu, der
       ehemalige Ministerpräsident der AKP, arbeiten an eigenen Parteiprojekten.
       Können diese Neugründungen aus der AKP heraus eine Alternative zur
       gegenwärtigen Regierung werden? 
       
       Wenn neue Parteien auf Basis alter Geisteshaltungen gegründet werden,
       können sie keine Alternativen sein. Die Türkei braucht eine Veränderung der
       Geisteshaltung. Die Demokratie muss neu geschaffen werden; das Land braucht
       eine neue Verfassung, die universelle Rechte und Freiheiten beinhaltet.
       Beide Parteigründer haben keine Erzählung oder kein Programm dafür, wie
       solch drängende Probleme wie die Kurdenfrage geklärt werden können. Im
       Gegenteil: Beide ehemaligen AKP-Politiker sind mitverantwortlich für die
       gegenwärtigen Probleme. Man hätte erwartet, dass sie selbstkritisch
       hinterfragen, wie sie das heutige Regierungsmonster mitgeschaffen haben. Es
       gab keine Selbstkritik.
       
       Was ist dann das Ziel dieser Neugründungen? 
       
       Beide Politiker verfolgen einen Weg, der auf grobe politische Arithmetik
       beschränkt ist, bei dem es nur um die Frage geht, wie man AKP-Wähler*innen
       und Politiker*innen für die eigene Partei gewinnen kann. Eine Alternative
       zur AKP kann nicht aus der AKP heraus entstehen, sie kann keine alte oder
       neue Version der AKP sein. Es gibt einen anderen Weg. Und als Alternative
       zur Regierung muss man diesen anderen Weg mit Entschiedenheit verfolgen.
       
       Anmerkung der Redaktion: Weil sich Figen Yüksekdağ seit dem 5. November
       2016 in der nordwesttürkischen Stadt Kocaeli in Haft befindet, wurde das
       Interview schriftlich geführt. 
       
       Aus dem Türkischen von Volkan Ağar
       
       20 Dec 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Yasin Kobulan
       
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