# taz.de -- Prozess wegen Paragraf 219a: „Das versteht doch kein Mensch“
       
       > Trotz neuer Gesetzeslage wurde Kristina Hänel erneut für schuldig
       > befunden. Die Ärztin hatte im Netz über Schwangerschaftsabbrüche
       > informiert.
       
 (IMG) Bild: Gießen, 12. Dezember: Kristina Hänel auf dem Weg ins Gericht
       
       Gießen taz | Regine Enders-Kunze ist merklich unzufrieden, als sie die
       Ärztin Kristina Hänel erneut wegen Verstoßes gegen Paragraf 219a
       Strafgesetzbuch verurteilt. „Es macht keinen Sinn, strafrechtlich eine
       sachliche Information zu einem medizinischen Eingriff zu verbieten“, sagt
       die Richterin am Landgericht Gießen. Es falle schwer, dafür Argumente zu
       finden.
       
       Die Reform des Gesetzes aus der Feder der Großen Koalition sei „nicht
       gelungen“, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes fraglich, befindet
       Enders-Kunze. „Aber wir haben diese Vorschrift im Moment im Gesetz“, sagt
       sie weiter. „Strafgerichte sind dem Gesetz unterworfen und wir müssen das
       anwenden, was der Gesetzgeber uns vorgibt.“
       
       Und somit ist Kristina Hänel, das Gesicht im Kampf gegen Paragraf 219a, in
       zweiter Instanz verurteilt. Wenn auch mit reduzierten Strafmaß: 25
       Tagessätze zu je 100 Euro.
       
       Hänel ist nicht überrascht – der Schuldspruch ist sogar in ihrem Sinne.
       Direkt nach Verlassen des Gerichtsraums wird die Ärztin mit von einer
       Erkältung angeschlagener Stimme verkünden, Rechtsmittel einzulegen. Ihr
       Ziel ist nach wie vor das Bundesverfassungsgericht. „Der neue Paragraf 219a
       ist völlig absurd“, sagt sie.
       
       ## Bereits das dritte Gerichtsverfahren
       
       Es ist bereits das dritte Mal, dass die Gießener Allgemeinmedizinerin sich
       vor Gericht verantworten muss. Hänel informiert auf ihrer Webseite
       ungewollt Schwangere darüber, dass und mit welchen Methoden sie
       Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Genau das aber darf sie nach dem
       Gesetz, das „Werbung“ für den Abbruch der Schwangerschaft verbietet, nicht
       tun.
       
       Hänels erstinstanzliche Verurteilung im November 2017 hatte eine
       bundesweite Debatte ausgelöst. Nach langem Ringen einigte sich die Große
       Koalition auf einen Kompromiss: Ärzt*innen dürfen seit der Reform
       öffentlich erklären, dass sie Abtreibungen durchführen. Jede weitere
       Information aber – bis zu welcher Schwangerschaftswoche, mit welchen
       Methoden – bleibt verboten. Dafür müssen die Mediziner*innen auf
       autorisierte Stellen verweisen, etwa eine noch im Aufbau befindliche Liste
       auf der Webseite der Bundesärztekammer.
       
       Zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung war Hänel schon in zweiter Instanz am
       Landgericht verurteilt. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt entschied
       deswegen, dass das Landgericht ihren Fall noch einmal nach neuer Rechtslage
       verhandeln muss. Nun ist Hänel auch nach dieser Fassung verurteilt.
       
       Nach der Urteilsverkündung steht sie neben ihrem Anwalt Karlheinz Merkel,
       zahlreiche Kameras und Mikrofone sind auf die beiden gerichtet. Im
       Hintergrund tummeln sich noch die Unterstützerinnen, die den Prozess
       abgeschirmt von einer dicken Glasscheibe verfolgt haben. „Wir Ärztinnen
       dürfen und sollen jetzt sogar sagen, dass wir Abbrüche durchführen“, sagt
       Hänel. „Aber es ist nach wie vor verboten, dass wir Fachleute über Risiken
       und Komplikationen informieren. Das versteht doch kein Mensch.“
       
       ## „Ideologisches Ungetüm“
       
       Ändern will Hänel am Wortlaut ihrer Webseite nach wie vor nichts. „Nach
       unserer Erkenntnis sind über 100 Verfahren anhängig, wegen der Anzeigen von
       Fundamentalisten“, sagt ihr Anwalt. „Wir finden, es wird Zeit, das bald
       grundsätzlich zu entscheiden, um den Druck von den Ärztinnen und Ärzten zu
       nehmen.“
       
       Deswegen hatte Merkel in der Verhandlung ausgiebig erklärt, warum er den
       Paragrafen 219a in der alten wie auch der neuen Fassung aus diversen
       Gründen für verfassungswidrig hält. Es gehe, anders als häufig behauptet,
       keineswegs darum, Grundrechte wie die Berufs- und Informationsfreiheit von
       Ärzt*innen und Schwangeren gegen Grundrechte des ungeborenen Lebens
       abzuwägen, sagte Merkel.
       
       So habe zwar das Gericht im ersten Urteil zum Paragraf 219a aus dem Jahr
       2006 in Bayreuth entschieden, und seither hätten alle davon abgeschrieben.
       Tatsächlich solle der Paragraf 219a laut Gesetzgeber eine Normalisierung
       von Schwangerschaftsabbrüchen verhindern, es gehe also um den Schutz eines
       gesellschaftlichen Klimas.
       
       „Soll man nun aber die Moralvorstellungen von 1974 ewig weitertragen?“,
       fragte Merkel. Die Hälfte der heutigen Bevölkerung der Bundesrepublik sei
       damals nicht mal geboren gewesen. Auch sei fraglich, ob der Staat überhaupt
       dafür zuständig sei, moralische Befindlichkeiten zu schützen. Vor allem
       aber stünden Grundrechte wie die Berufsfreiheit klar über einem solchen
       Schutz kollektiver Moralempfindungen, das Gesetz sei also unverhältnismäßig
       und somit verfassungswidrig. Die neue Fassung des Paragrafen sei ein
       „ideologisches Ungetüm“.
       
       ## Keine Überraschung
       
       Merkel appellierte an Richterin Enders-Kunze, den Fall seiner Mandantin dem
       Bundesverfassungsgericht vorzulegen, damit dieses die Verfassungsmäßigkeit
       des Gesetzes prüfen kann. Die Richterin hatte aber schon ganz zu Beginn der
       Verhandlung klargemacht, dass sie das nicht für möglich hält – aus formalen
       Gründen.
       
       Das OLG habe den Fall zurückverwiesen, damit geprüft wird, ob Hänels
       Webseite auch nach der neuen Fassung des Paragrafen 219a strafbar ist. Die
       Reform des Gesetzes habe zwar „zu mehr Unklarheit geführt, als dass sie
       Klarheit herbeigeführt hat“, das OLG Frankfurt habe es aber für anwendbar
       gehalten. Deswegen müsse das Landgericht nun diese Anweisung befolgen.
       
       Dem schloss sich der Staatsanwalt in seinem Plädoyer an. Dass Ärzt*innen
       nun sagen dürften, dass sie Abtreibungen machen, nicht aber wie, habe rein
       politische Gründe. Aus Sicht des Strafrechts mache das keinen Sinn. Nach
       dem Gesetz gebe es aber keinen Ermessensspielraum, der Inhalt von Hänels
       Webseite sei weiter strafbar. „Das dürfte für Sie keine Überraschung sein,
       Frau Hänel. Sie möchten hier verurteilt werden, um zum
       Bundesverfassungsgericht gehen zu können.“
       
       Das Urteil ist das dritte seit der Reform des Paragrafen 219a. Die
       Gerichtsentscheidungen fallen seither allerdings nicht einheitlich aus: In
       Kassel hatte das Amtsgericht das Strafverfahren gegen zwei Gynäkolog*innen
       im Sommer eingestellt, weil es nun keine Strafbarkeit mehr sah. Die beiden
       hatten auf ihrer Webseite erklärt, medikamentöse und operative
       Schwangerschaftsabbrüche anzubieten. In Berlin hingegen wurde die Revision
       der Berliner Ärztin Bettina Gaber Ende November verworfen, sie ist nun
       rechtskräftig verurteilt. Auch Gaber erwägt eine Verfassungsbeschwerde.
       
       12 Dec 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dinah Riese
       
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