# taz.de -- Die Grünen und ihr Selbstbild: Es ist vorbei
       
       > Führung, Koordination, Europa: Ob die Grünen das alles können, ist nicht
       > bewiesen. Dass die Bundesregierung es nicht kann, ist dagegen klar.
       
 (IMG) Bild: Regieren von hier aus bald die Grünen?
       
       Die Aussicht auf eine Trauerrede von Claudia Roth ist ein Impuls, das
       Konzept der Unsterblichkeit doch in Erwägung zu ziehen. Dachte ich mir
       unlängst [1][beim Parteitag]. Bei allem Respekt vor der Lebensleistung ist
       das melodramatische Grüne-Seelen-Sprechen so sehr aus der Realität
       gefallen, dass es inzwischen so authentisch klingt wie Florian Silbereisen.
       
       Nun kann man sagen, was soll’s, die Baerbock-und-Habeck-Karawane ist doch
       längst weitergezogen. Aber interessant ist schon, dass immer noch der
       Redenklassikertyp den stärksten Applaus kriegt, in dem die seit 1968
       eingebimsten Abgrenzungsgesten beschworen werden, also die Beschwörung und
       Vertiefung einer Abspaltung von der „Mitte“, in der angeblich Rassismus,
       Antifeminismus, Fatphobia und Mangel an Haltung gegenüber Nazis
       praktizierte Werte sind.
       
       Nun beschreiben die Old-School-Funktionäre aber nicht mehr eine Partei, die
       sich 100.000 Mitgliedern nähert, und auch viele Projektionen tun das nicht
       mehr, die ebenfalls erkennbar von dem Unwillen geprägt sind, die letztlich
       doch gemütliche gesellschaftspolitische Folie der Vergangenheit
       loszulassen.
       
       Will sagen: Psychologisch gilt es weiterhin als „normal“, davon auszugehen,
       dass es zwei klassische Volksparteien gebe – und es darum gehe, diese in
       möglichst alter Stärke und Konsistenz wiederherzustellen: eine, die die
       fossile Industriegesellschaft sozial reguliert, die andere kulturell. Die
       Zuständigkeit der Grünen ist in der alten Welt rein kulturell und besteht
       in der rhetorischen Distanzierung von der Realität.
       
       Es ist vorbei.
       
       Die Lücke im Zentrum der zukunftsfähigen Mehrheitspolitik ist da, sie ist
       riesig, und die Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck
       haben sich auf den Weg gemacht, sie zu besetzen. Die beiden sind ein
       Frau-Mann-zusammen-Paar, das die bundesrepublikanische Gesellschaft in der
       Politik noch nicht gesehen hat. Das ist der Grund, warum die anderen sie so
       engagiert gegeneinander ausspielen wollen.
       
       Diese Grünen wollen aus der Mitte heraus regieren: Das ist der
       Paradigmenwechsel, der sich 2019 vollzogen hat. „Mir kommt es vor“, sagte
       Habeck in einer vorsichtigen „Yes, we can“-Rede in Bielefeld, „als sei die
       Partei für diese Zeit gegründet worden.“
       
       Na ja. Die Partei wurde in einer völlig anderen Welt für eine völlig andere
       Welt gegründet. Richtig ist aber, dass die Frage, für welche utopischen
       Ideen man einst gegründet wurde, radikal zurückzustehen hat hinter der
       Frage, was die Aufgaben der Gegenwart sind, die sonst keiner angeht.
       
       Das ist das Interessante: Diese Baerbock-Habeck-Grünen wollen nicht mehr
       nur in Baden-Württemberg, sondern im Bund und mit deutlichem Schielen auf
       Präsident Macron Verantwortung, Führung und Koordination für die Scheiße
       übernehmen. Das meint nicht nur Klimapolitik, sondern auch Europa, das war
       ja wohl die Botschaft von Baerbocks und Habecks Frankreich-Reise.
       
       Es meint eine Europäische Armee, die Baerbock skizzierte und die
       Notwendigkeit, führende Wirtschaftspartei des Green New Deal zu werden, was
       Habeck ansprach. Es meint die Notwendigkeit des sozialökologischen
       Regulierens, für Grüne easy, aber auch des kulturellen Regulierens, für
       Grüne bisher ein No-Go. Ob die Grünen das alles können, ist null bewiesen.
       Dass die Bundesregierung es nicht kann, dagegen zur Genüge.
       
       Am Ende des Jahres 2019 fürchten Politiker der Union ernsthaft, dass
       Baerbock und Habeck demnächst aus dem Kanzleramt heraus Politik machen. Der
       Witz ist: Das haben sie immer noch vielen Grünen voraus.
       
       30 Nov 2019
       
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