# taz.de -- Referendum in Venedig: Eine Stadt, kein Disneyland
       
       > Am Sonntag stimmt Venedig in einem Referendum über seine Unabhängigkeit
       > ab. Die Zwangsgemeinschaft mit dem Festland könnte der Untergang sein.
       
 (IMG) Bild: Trotz Hochwasser überschwemmen Touristen den Markusplatz in Venedig
       
       Venedig taz | In dem Augenblick, in dem ich diese Zeilen schreibe, höre ich
       wieder die Hochwassersirene gellen. Venedig befindet sich im permanenten
       Ausnahmezustand, [1][apokalyptisch überflutet], verschandelt zum
       Erlebnispark, zertrampelt von [2][33 Millionen Touristen jährlich].
       
       Diese Stadt, die zur Geldmaschine erklärt wurde, wird seit Jahrzehnten von
       den Predigern eines touristischen Fundamentalismus regiert, deren
       Glaubensbekenntnis sich in den Worten „Venezianer raus, Touristen rein“
       zusammenfassen lässt. An die Wände der Gassen gepresst versuchen die
       verbliebenen 52.000 Venezianer, sich permesso, permesso (pardon, pardon)
       murmelnd durch die Reisegruppen einen Weg zum letzten verbliebenen
       Gemüsehändler zu bahnen.
       
       Und weil all das noch nicht ausreichte, um Venedig vollständig zu Tode zu
       bringen, bedurfte es noch eines Megaprojekts wie der Hochwasserschleuse
       „Mose“, das schon überholt war, als es geplant wurde. Eine Schleuse, die
       nicht weniger, sondern mehr Hochwasser in die Stadt brachte: größter
       Korruptionsskandal der Nachkriegszeit, ein Monument der Gier, das 7
       Milliarden Euro im Meer und in den Taschen einer politischen Klasse
       versenkte – und an dem unbeirrbar weitergebaut wird.
       
       Venedig zeigte also alle Symptome eines Herzstillstands, als der Stadt Ende
       September plötzlich ein Defibrillator auf die Brust gesetzt wurde: Seitdem
       wir wissen, dass wir am 1. Dezember über die Autonomie vom Festland
       abstimmen werden, fühlen wir uns wie elektrisiert. Endlich haben wir wieder
       Hoffnung.
       
       ## Versuch, dem Festland zu entkommen
       
       Noch nie habe ich die Venezianer so enthusiastisch, so engagiert, so
       leidenschaftlich erlebt wie in diesen Wochen der Referendumskampagne.
       Diskussionsveranstaltungen verwandeln sich in Volksversammlungen, das
       Theater Goldoni wurde überrannt; wer keinen Platz mehr fand, verfolgte die
       per Lautsprecher übertragene Diskussion in der Gasse, auch das Hochwasser
       konnte die Venezianer nicht abschrecken: Es wurde geklatscht, gepfiffen und
       getobt, dass man das Gefühl hatte, in der Fankurve des Venezia FC zu
       sitzen.
       
       Nur die wenigsten wissen, dass Venedig über keine eigene Stadtverwaltung
       verfügt, sondern mit dem Festland zwangsverheiratet wurde. 52.000 Einwohner
       hat Venedig noch, einschließlich aller anderen Inselbewohner leben 79.00
       Menschen auf dem Wasser, 180.000 hingegen auf dem Festland. Wenn der
       Bürgermeister von Venedig gewählt wird, wählen ihn nicht die Venezianer,
       sondern die Festlandsbewohner, die in Mestre, Marghera, Favaro, Campalto,
       Chirignago-Zelarino wohnen.
       
       Damit ist er nicht nur Bürgermeister von Venedig, sondern auch von der
       Metropolitanstadt Venedig, der ehemaligen Provinz Venedig: sindaco
       metropolitano, was immer etwas an die orthodoxen Metropoliten erinnert, die
       mit dem Rücken zur Gemeinde predigen. Auf dem Festland der sogenannten
       Metropolitanstadt leben sechzehnmal so viel Menschen wie in Venedig, die
       diesen Metropoliten schon aus dem Grunde anbeten, weil er alles dafür tut,
       dass der Tagestourismus Venedig auch weiterhin ungehindert überfluten kann.
       
       Es ist das fünfte Mal, dass Venedig mit einem Referendum versucht, dem
       Festland zu entkommen, abstimmen können alle 259.000 Einwohner des
       Großraums Venedig.
       
       ## Eine „bipolare Stadt“
       
       Die Zwangsehe Venedigs mit dem Festland ist übrigens ein Überbleibsel des
       Faschismus: Das 1926 unter Mussolini geschaffene Großvenedig wurde von
       einer Gruppe geschäftstüchtiger Industriebarone entwickelt, die Venedig mit
       der Industriestadt Marghera und der Arbeitersiedlung Mestre
       zwangsvereinigten. Marghera war mit seinem Industriehafen vor allem für
       Venedigs Müll gedacht, was nach dem Bau der Petrochemieanlage in den 1960er
       Jahren dazu führte, dass hier hochtoxische Stoffe auf Müllhalden abgeladen
       und in die Lagune geleitet wurden.
       
       Zur Zeit von Mussolini lebten auf dem Festland nur 40.000 Einwohner, in
       Venedig hingegen fast 200.000. Heute hat sich das Verhältnis nahezu
       umgekehrt. Mestre erinnert mit seinen Hotelsilos an einen Vorort aus
       Sowjetzeiten, der aus Versehen hier fallen gelassen wurde. Obwohl
       drittgrößte Stadt des Veneto, entbehrt Mestre jeder urbanen Identität und
       kann sich lediglich des Primats rühmen, die Stadt mit den meisten
       Drogentoten und Einkaufszentren zu sein.
       
       Seit seinem Entstehen wird das bizarre „Großvenedig“ von allen
       Bürgermeistern verteidigt, wobei sich die jahrzehntelang regierende Linke
       sogar dazu verstieg, den Großraum Venedig zur „Utopie“ und zur „bipolaren
       Stadt“ zu erklären – ein Krankheitsbild, unter dem Venedig bis heute
       leidet. Denn ohne die Zwangsehe mit Venedig würden auch all die Gelder des
       Spezialgesetzes versiegen, die das Regieren auf dem Festland so leicht
       machen: Gelder, die für Venedigs Erhalt gedacht sind und in Mestre enden.
       
       ## Verwaltet wie ein Unternehmen
       
       Der parteilose Bürgermeister und Unternehmer Luigi Brugnaro hat während
       seines Wahlkampfes genau dieses Referendum versprochen – ein Versprechen,
       das er, einmal gewählt, sofort gebrochen hat. Brugnaro trieb den Ausverkauf
       Venedigs in schwindelerregender Geschwindigkeit voran, wodurch er selbst
       seine geschäftstüchtigen Vorgänger übertraf.
       
       Brugnaro ist ein politisches Chamäleon, das twittert wie Trump, schnell
       ausfällig wird und Interessenkonflikte wie Berlusconi hat. Venedig ist für
       ihn nichts anderes als ein Unternehmen, aus dem es gilt so viel Geld wie
       möglich herauszupressen. In Venedig zeigt der sich als
       „Festlandsvenezianer“ bezeichnende Bürgermeister – von Venedig aus
       betrachtet so etwas wie ein rundes Quadrat oder trockenes Wasser – sich
       nur, wenn es gilt, vor den Fernsehkameras der Welt zu paradieren. Er wohnt
       nicht in Venedig, auch nicht in der sogenannten Metropolstadt, sondern in
       der Provinz Treviso. Dass ein Landei, un campagnolo, Venedig regiert,
       empfinden die Venezianer als Erniedrigung.
       
       Warum zum Teufel wird aber an dieser Zwangsehe festgehalten? Es ist
       offensichtlich: Wären Venedig und Mestre autonome Gemeinden, könnten die
       Wähler ihre Politiker besser kontrollieren. Venedig könnte bei der
       Europäischen Union einen Spezialstatus beantragen, der der Stadt aufgrund
       der Insellage zustünde, nicht aber, wenn es zusammen mit dem Festland
       regiert wird. Mestre würde weniger Steuern bezahlen, könnte ein eigenes
       Wirtschaftskonzept entwickeln und Gelder bei der Region Veneto beantragen,
       die ihm als Anhängsel Venedigs nicht zustehen.
       
       ## Weiße Bettlaken mit „Sì“
       
       Nachdem der Staatsrat Ende September grünes Licht für die Volksabstimmung
       gab, riefen Massimo Cacciari, der von den Medien stets gehätschelte
       „Philosophenbürgermeister“ und Initiator des Ausverkaufs Venedigs, seine
       beiden Amtsnachfolger und Bürgermeister Brugnaro unisono die Bürger dazu
       auf, sich ihrer Stimme zu enthalten. So verstand auch die frömmste Seele,
       dass sich hinter der Zwangsehe handfeste Interessen verbergen. Zuletzt rief
       sogar die rechtsextreme Gruppe „Veneto nazionale“ zur Enthaltung auf, womit
       klar ist, dass dieses überparteiliche Referendum weder Linken noch Rechten
       passt.
       
       Vorangetrieben wurde das Referendum dank eines juristischen Kampfs
       beharrlicher venezianischer Bürger und Bürgerinitiativen, die seit
       Jahrzehnten für den Erhalt ihrer Stadt kämpfen. Für das „No“ zu der
       Autonomie von Venedig und Mestre werben Parteien wie PD und Rifondazione
       comunista, das „Sì“ wird von einem breiten überparteilichen Bündnis aus
       Schriftstellern, Intellektuellen, Künstlern, dem Kulturschutzbund Italia
       Nostra, dem Handwerksverband und von 5-Sterne-Gründer Beppe Grillo
       unterstützt – während sich die Bewegung selbst für ein Ja zur Trennung spät
       und eher lau positioniert hat.
       
       Egal, wie dieses Referendum ausgehen wird, der Geist ist aus der Flasche.
       Deswegen wohl schickte Bürgermeister Brugnaro Gemeindepolizisten in
       Mannschaftsstärke los, um die Banner mit dem „Sì“ zu entfernen, die
       inzwischen selbst am Canal Grande von den Fenstern der Palazzi hängen.
       Daraufhin hängten die Venezianer weiße Bettlaken raus.
       
       Mit „Sì“.
       
       30 Nov 2019
       
       ## LINKS
       
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