# taz.de -- 70 Jahre China, 29 Jahre Einheit: Zwei Feiertage, null Harmonie
       
       > Wehende Fahnen verdecken den Blick auf nationale Verfehlungen. In
       > Deutschland ist das nicht anders als in der Volksrepublik China.
       
 (IMG) Bild: Yin und Yang und so: Hostess auf dem chinesischen Volkskongress in Peking
       
       „Du bist immer voll nett“, stellt eine Freundin beim zweiten Whiskey Sour
       fest und ich suche nach dem Quäntchen Vorwurf in ihrer Stimme. „Zu nett?“,
       frage ich mehr mich als sie. Ich mag halt nett sein. Auch wenn ich es
       manchmal gar nicht so meine.
       
       Diese Woche, im Oktober 2019, ist es gut fünf Jahre her, dass irgendein Typ
       mir erklärte, warum ich so nett bin. Dass das ein kulturelles Ding sei.
       Asiaten seien nämlich harmoniebedürftig, Buddhismus, Zen, Feng Shui, Yin
       und Yang und so. Ich musste laut lachen, und dann bin ich dem Typ
       entflohen, nett natürlich.
       
       Ich hätte sagen können, dass seine Theorie generalisierender Bullshit ist.
       Dass es überall nette Menschen gibt und Arschlöcher. Dass manche Streit
       suchen, andere ihre Ruhe und die wenigsten eine Diskussion, die ihnen den
       Spiegel vorhält. Dass ich immer recht haben will und es trotzdem den
       meisten recht machen muss. Dass meine Persönlichkeit deshalb ein einziger
       großer Konflikt ist – was aber nicht an meiner DNA liegt, sondern an meinem
       Aszendenten. So steht es jedenfalls auf astroxl.com.
       
       Wahrscheinlich ist es wahr, dass Harmonie in China einen größeren
       Stellenwert hat, philosophisch und politisch. Der frühere Parteichef Hu
       Jintao hatte während seiner Amtszeit noch das Ziel der „harmonischen
       Gesellschaft“ proklamiert, auch im Sinne einer gerechten Verteilung von
       Wohlstand. Harmonie wäre in diesem Fall also finanzielle Gerechtigkeit,
       gleiches Geld für alle – aber mit nett hat das nicht viel zu tun. Menschen
       können bekanntlich geldsorgenfrei und gemein gleichzeitig sein.
       
       Diese Woche, im Oktober 2019, [1][ist es 70 Jahre her], dass der große
       Vorsitzende Mao auf dem Platz des Himmlischen Friedens vor rund 300.000
       Menschen die Volksrepublik China ausrief. Überall sieht man jetzt wieder
       rote Fahnenmeere. Für viele Chines:innen bedeutet das Jubiläum eine Woche
       Urlaub, im Hintergrund laufende Fernseher, Zeit mit der Familie, gutes
       Essen. Für die KP ist der Feiertag die Chance zur Machtdemonstration. Von
       politischer Harmonie ist unter Xi Jinping nichts übrig.
       
       Ebenfalls diese Woche, im Oktober 2019, ist es 29 Jahre her, dass vor dem
       Bundestag zum ersten Mal die „Fahne der Einheit“ gehisst wurde. Schwarz,
       rot, gelb, auch wenn die meisten gern von gold sprechen. Für viele Deutsche
       bedeutet dieser Feiertag ein längeres Wochenende, im Hintergrund laufende
       Fernseher, Zeit mit der Familie, mittelmäßiges Essen. Politisch ist der Tag
       der Deutschen Einheit ein Fragezeichen. Was bleibt noch von Einheit, was
       war jemals da, während Faschismus wieder auf Wahlzetteln steht?
       
       Von Harmonie auch in Deutschland keine Spur, auch wenn die Schreiberelite
       in ihren Efeualtbauten grübelt, wie sie am besten mit Rechten redet. Nein,
       nirgends Harmonie in Sicht, weder im Osten, noch im Westen. Wehende Fahnen
       verdecken den Blick auf nationale Verfehlungen. Daran ist nichts nett,
       weder hier noch dort, von euch kann ich es also nicht haben, das mit dem
       Nettsein.
       
       2 Oct 2019
       
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