# taz.de -- Tag der Deutschen Einheit: Migrant*innen an die Macht
       
       > Ostdeutsche und Frauen werden 30 Jahre nach der Wende als Menschen
       > wahrgenommen. Wenn das so weitergeht, sind wir MigrantInnen 2080 dran.
       
 (IMG) Bild: Welche Gesellschaft soll das abbilden: Gruppenbild mit neuem DFB Präsidium vom 27. September
       
       Allmählich wird's ernst in Sachen deutsche Einheit. Wahrscheinlich muss
       Jana Hensel noch ein paarmal bei Markus Lanz vorsprechen, doch die Republik
       ist dabei, zu verstehen: Im Osten Deutschlands leben Menschen. Mensch mit
       Bedürfnissen, Träumen und Rentenansprüchen. So viel zum Kuschelkurs.
       
       Ungemütlich wird es in der Bundesrepublik jedoch, wenn der Einheitsfrust
       als Erklärung für Menschenverachtung missbraucht wird. Nein, Rassismus und
       völkisches Denken sind keine naturgegebene Reaktion auf die soziale Frage,
       nur weil hier national und sozial für manche untrennbar verwoben ist.
       
       Ich möchte an diesem unbedeutenden 29. Tag der deutschen Einheit einmal zu
       Protokoll geben: Liebe Ostbrüder und Ostschwestern, langsam herrscht hier
       Opferkonkurrenz. Euch geht's da drüben zwar hier und da schlecht, aber die
       Lösung für Unterrichtsausfälle und schlechte Bahnverbindungen ist kein
       Politiker, der Passagen aus „Mein Kampf“ fit fürs 21. Jahrhundert macht.
       
       Auch der Klimawandel wird euch nicht deshalb vernichten, weil die Politik
       etwas gegen ihn tut. Im Gegenteil. Der Wahlwerbespot von Bernd(!) Höcke
       zeigt, wie Herr Höcke sich seine Wähler*innen vorstellt: Besorgte, die
       denken, das Benzin würde wegen des Klimawandels so teuer, dass die
       Thüringer auf die Bahnen angewiesen sind, die im Osten nicht mehr fahren.
       Wer bei Verstand hält Rassismus für eine Maßnahme bei
       Infrastrukturproblemen?
       
       ## Viele sind aufgewacht
       
       Eigentlich wollte ich über das vielfältige Deutschland reden und spreche
       doch wieder nur über [1][Ossis und Wessis und unsere Rechtsaußendeutschen].
       Ich mache es wie alle hierzulande, Ignoranz infiziert. „Vielfalt“, das
       meint im 29 Jahre alten Deutschland, dass Hans-Georg Maaßen in einem
       Interview zu Wort kommt. Man könnte meinen, Minderheiten hätten das Land
       überwältigt und Rechtaußendeutsche seien eine schützenswerte
       0,7-Prozent-Gruppe in diesem Land.
       
       Vielfalt! Das ist der Kampfbegriff, den sich Minderheiten von Großkonzernen
       abgeschaut haben: Diversity, das geht in Deutschland. Einwanderung macht
       Angst, Vielfalt hingegen macht Wohlstand. Die Illusion, nützliche
       Einwanderer könnten in Deutschland in Ruhe leben, war mit dem NSU
       allerdings vorbei. Wir wussten: Ihr liebt und schützt uns nicht mal dann,
       wenn wir nützlich sind. Gerade dann nicht. Weil Empowerment von
       Minderheiten das Letzte ist, was die Rechtsaußen in diesem Land wollen. Die
       Opfer des NSU wurden zehn Jahre lang nicht geschützt. Jetzt muss Horst
       Seehofer, der als Heimatminister antrat, um Deutschland vor Flüchtlingen
       und Kulturfremden zu bewahren, nach dem Mord an Walter Lübcke die deutsche
       [2][Heimat vor deutschen Rechtsextremen schützen].
       
       Mit dem Mord an einem deutschen Politiker sind viele aufgewacht. Eine
       schöne Einheit ist das im Jahr 2019. Wo ist der Einäugige unter all den
       Blinden?
       
       Der Tag der Deutschen Einheit wird erst dann zum Tag der deutschen Einheit,
       wenn er mehrere Erzählungen zusammenwebt: die von Ost und West, die der
       Gastarbeiteranwerbeabkommen und der deutschen Flüchtlinge 1990 und 2015. An
       der Einheit von Männern und Frauen ist man in Deutschland dran. Die SPD
       tourt deshalb mit ihrer Karawane aus Doppelspitzenkandidat*innen durch
       Deutschland.
       
       Da sehen wir nun Saskia und Norbert, Klara und Olaf, Petra und Boris, Nina
       und Karl … Die SPD hat mickrige 150 Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass
       eine Parteispitze so aussehen kann. Sie hat nach 29 Jahren auch verstanden:
       Ostdeutsche Kandidat*innen gehören dazu. Wenn wir in dem Tempo vorangehen,
       können wir fest damit rechnen, ab etwa 2080 auch die Giannis, Tasoulas,
       Mehmets und Ivanas zum Teil der Parteispitzen zählen zu können.
       
       ## Keine Zeit für Behäbigkeit
       
       Meine Generation und die Jüngeren, wir haben für diese Behäbigkeit keine
       Zeit. Wir wollen unseresgleichen mitregieren sehen, in erster Reihe mit
       Ossis und Wessis. Einheit entsteht nur, wo wir trotz aller Unterschiede
       zusammenfinden. Auf allen Ebenen. Derzeit fehlt die Jugend, es fehlen
       Ostdeutsche, es fehlen Migranten und andere Minderheiten. Kaum Macht
       innerhalb der Institutionen.
       
       Die Jugend muss in Sachen Klimawandel den Kraftakt der Massenbewegung von
       Woche zu Woche vollbringen, um die Babyboomer, die derzeit an der Macht
       sind, zum Minimalsten zu bewegen. Die funktionierende Demokratie braucht
       Diversität, doch die derzeitige Politik schrammt zu oft an ihr vorbei.
       
       Eben wurde der Vorstand der Grünen neu gewählt. Es sieht nicht anders aus
       als in der SPD: Annalena, Robert, Gesine, Michael, … Das in Zeiten, in
       denen die Grünen „Vielfalt“ ganz oben auf die Agenda setzen. In Zeiten, in
       denen die SPD ständig betont: „Kein Fußbreit den Rassisten.“ Es müsste im
       aufgeklärteren Heute heißen: „Kein Fußbreit dem Rassismus.“ Der Rassismus,
       der in uns allen sitzt. In jedem, dem nicht einmal auffällt, wenn er sich
       im Anbetracht der Vielfalt unserer Gesellschaft in homogenen Kreisen
       bewegt. Erst recht in jenen, denen es auffällt, aber die es nicht
       verändern. Diversität ist nicht Fürsprache, sondern Teilhabe. Auch an
       Spitzenpositionen.
       
       Es gibt Hoffnung, ich weiß, aber der deutsche Zeitstrahl für Wandel gehört
       nicht zu den Hoffnungsträgern. Man sehe sich den DFB an, dem es gelingt,
       homogen alt, weiß und fast durchwegs männlich zu bleiben. Zu wenige Frauen?
       Na und, Kritik kassieren kostet nichts. Das Fehlen von MigrantInnen fällt
       dagegen nicht mal auf.
       
       Das wäre ein Projekt für die Ansprache zum 30. Jahrestag der deutschen
       Einheit: Das „liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger“ in den fünf Sprachen zu
       sagen, die man in Deutschland am häufigsten spricht. Damit man zumindest
       dran erinnert wird: Es gibt uns. Es gibt die Alten und die Neuen in diesem
       Land, die noch kein Deutsch können, es gibt deren Kinder, die Deutsch
       können und einen deutschen Pass haben und die nicht zum Hassen oder
       Vergessen da sind. Auch das wäre deutsche Einheit.
       
       3 Oct 2019
       
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