# taz.de -- Retrospektive von Ai Weiwei: Flucht als Readymade
       
       > Zwischen Selbstinszenierung und klarer politischer Verortung: Die große
       > Retrospektive von Ai Weiwei in Düsseldorf ermöglicht Differenzierung.
       
 (IMG) Bild: Ai Weiwei, Installationsansicht Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K21, 2019
       
       East Village, 1990er-Boheme: Autor Allen Ginsberg, Demonstranten in der
       Wall Street, Wahlkämpfer Bill Clinton. Und immer wieder ein chinesischer
       Kunststudent, pausbäckig, jungenhaft, im Museum, im Park, im Bett. Von 1983
       an studierte [1][Ai Weiwei] zehn Jahre in New York; während dieser Zeit
       entstanden unzählige Fotos, die einerseits den Geist der Metropole
       dokumentierten, andererseits auch Ais schon damals ausgeprägten Sinn für
       Selbstinszenierungen zeigten.
       
       57 dieser Fotos sind in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW zu sehen, und
       auf vielen taucht der Künstler selbst auf – frühe Selfies, die einen
       Widerhall finden in den Handyaufnahmen, mit denen Ai zuletzt die globale
       Migration dokumentierte und dabei ebenfalls häufig in die Kamera grinste.
       
       Düsseldorf ist spät dran: Galt Ai Weiwei in den Nullerjahren als Prototyp
       des globalen Politkünstlers, so wird der heute 61-Jährige mal als
       geschickter Selbstvermarkter geschmäht, der die Kritik am chinesischen
       Regime zur weltweit verkaufbaren Trademark gemacht hat, mal als
       Schaumschläger, dessen Rolle gegenüber dem Regime alles andere als
       eindeutig ist und der zudem in seiner teils industriell organisierten
       Kunstproduktion ethische Grundsätze vermissen lässt. Natürlich ist es nicht
       Aufgabe einer Ausstellung, dieses Bild zu korrigieren, bloß: Eine gewisse
       Begründung, weswegen man den Künstler ausgerechnet jetzt präsentiert,
       sollte man schon bekommen.
       
       ## Die Kritik zielt an der Kunst konsequent vorbei
       
       Die Schau macht das an den beiden Ausstellungsorten Ständehaus und
       Grabbeplatz nicht ungeschickt, indem sie Werke aus allen Arbeitsphasen Ais
       präsentiert. Mit denen kann man die Kritik ein Stück weit nachvollziehen,
       erkennt aber gleichzeitig, dass sie an dieser Kunst konsequent vorbei
       zielt.
       
       Gezeigt werden drei Phasen, die sich recht eindeutig mit Lebens- und
       Arbeitsorten verbinden lassen: Im Ständehaus sieht man (wenige) frühe
       Arbeiten aus New York, in denen der Künstler mit Gemälden wie „Coke
       Painting“ (1982–1983) seinen Weg zwischen Fluxus und Pop suchte. Darauf
       folgen primär in Peking verortete Projekte ab 1993, Projekte, die teils
       dokumentarischen, teils kunsthandwerklichen Charakter haben und die von
       Jahr zu Jahr immer klarer politisch lesbar sind. Es geht um staatliche
       Repression – das Dekor eines kunstfertig gestalteten Porzellantellers,
       „Brain Infliction on Plate“ (2012), zeigt einen CT-Scan von Ais Schädel
       nach einer Misshandlung durch Polizisten 2009.
       
       Außerdem geht es um einen Überwachungsstaat, der sich in Videos und
       Installationen als so lächerlicher wie gefährlicher Tiger erweist: Hilflose
       Polizisten sind da zu sehen, die vom beobachteten Künstler höhnisch
       vorgeführt werden, aber auch nachgestellte Folterszenen in den Guckkästen
       von „S.A.C.R.E.D.“ (2011–2013).
       
       Die letzte Phase bezeichnet den Punkt, an dem die Stimmung gegen Ai kippte:
       Arbeiten nach dem Umzug nach Berlin 2015, als der Künstler begann, sich mit
       den weltweiten Migrationsbewegungen zu beschäftigen. Und tatsächlich
       scheinen diese Projekte eigenartig ungenau: Videos aus den Camps in Idomeni
       (2016) und Calais (2018) zeigen Bilder ohne echten Erkenntniswert, das
       riesige Bambus-Schlauchboot „Life Cycle“ (2018) wirkt naiv, und wenn Ai
       sich in umfangreichen Fotoserien immer wieder neben entkräftete Migranten
       stellt, kann man das als Selbstinszenierung eines übergroßen Egos
       kritisieren. Das dem Zynismus von rechts kaum noch etwas entgegenzusetzen
       weiß.
       
       ## 2064 zurückgelassene Kleidungsstücke
       
       Der Gegenentwurf liegt in der (kunst-)handwerklichen Qualität der Arbeiten:
       in den blau-weißen Porzellanobjekten (2017), die Bezug auf traditionelle
       chinesische Keramik nehmen, dabei aber Motive aus dem Komplex Flucht und
       Vertreibung zitieren. Oder in der Installation „Laundromat“ (2016): 2.064
       auf der Flucht zurückgelassene Kleidungsstücke, gesammelt im verlassenen
       [2][Lager Idomeni.] Hier lässt sich ein Künstler nicht ein auf das Gemecker
       von AfD und Pegida, stattdessen erklärt er die Flucht zum künstlerischen
       Readymade.
       
       Schon früher ließ Ai sich gut über den Komplex Kunst/Handwerk erschließen.
       Zwei riesige Installationen am Grabbeplatz zeigen, wie genau er auch schon
       in China dokumentarisches Material mit industrialisiertem Handwerk
       ästhetisierte: „Straight“ (2008–2012), 142 Kisten Baustahl aus den Ruinen
       vom 2008er Erdbeben in Sichuan, flankiert von einer Namensliste der über
       5.000 getöteten Schüler sowie einem Video, aus dem sich schließen lässt,
       dass der verwendete Stahl von minderer Qualität war.
       
       Sowie „Sunflower Seeds“, 60 Millionen handbemalte Sonnenblumenkerne aus
       Porzellan, die einerseits auf die chinesische Kunsthandwerksindustrie in
       Jianxi verweisen, andererseits als Kritik am als „Sonne“ verehrten Mao
       gelesen werden können – zumal die Installation von den
       institutionskritischen Legoobjekten „Zodiac“ (2018) flankiert wird.
       
       Man muss Ai nicht mögen. Man kann auch diese Ausstellung kritisieren, als
       auf den Effekt hin konzipiert, als populistisch, als politisch unscharf.
       Aber: Indem man ihn ausschließlich als Selbstdarsteller schmäht, wird man
       Ais Kunst nicht gerecht – und für diese Erkenntnis lohnt die Düsseldorfer
       Schau auf jeden Fall.
       
       9 Jul 2019
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Falk Schreiber
       
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