# taz.de -- Experte über Neue Heimat und Wohnungsbau: „Der Staat muss handeln“
       
       > Der Architekturtheoretiker Ullrich Schwarz über Aufstieg und Fall des
       > gewerkschaftseigenen Wohnungskonzerns.
       
 (IMG) Bild: Wohntürme an der Alster: So wollte die Neue Heimat 1967 den Hamburger Stadtteil St. Georg sanieren
       
       taz: Herr Schwarz, wieso schreiben Sie zum Stand der aktuellen
       Wohnungsbaupolitik „Außer symbolischen Herumstochern im Nebel findet
       derzeit wenig statt“ im Vorwort zu Ihrem Buch über die Neue Heimat? 
       
       Ullrich Schwarz: Der Text ist vor einem Jahr geschrieben worden, aber an
       der Situation hat sich im Grundsatz nicht viel geändert. Obwohl man zugeben
       muss, dass die Wahrnehmung auch in der Politik für das Thema Wohnungsbau in
       dieser kurzen Zeit sehr stark angewachsen ist und wir heute jeden Tag etwas
       dazu in den Medien hören. Selbst die Kanzlerin äußerst sich neuerdings zum
       Thema Wohnen, und ich habe sie in der ganzen Zeit ihrer Regierung zuvor nie
       über das Thema Wohnungsbau oder Stadtentwicklung sprechen hören. Kurzum:
       Die Politik hat erkannt, dass man mit schönen Phrasen nicht weiterkommt,
       sondern dass es sich um ein objektives Problem handelt.
       
       Hamburg hat noch unter Olaf Scholz als Bürgermeister als Ziel ausgegeben,
       [1][jedes Jahr 10.000 Wohnungen] zu bauen. Ist das realistisch? 
       
       Ein Stadtstaat wie Hamburg hat ein Problem: Er hat Außengrenzen. Damit ist
       die Fläche, die bebaut werden kann, endlich und kann nicht vermehrt werden.
       Es gibt immer weniger bebaubare Flächen, wenigstens für größere Einheiten.
       Und wenn die Einheiten immer kleiner werden, wird es schwieriger: Von den
       rechtlichen Grundlagen her, auch von den Interessenlagen her – an jeder
       Straßenecke ist gleich die Nachbarschaft auf den Beinen und sagt: „Das
       wollen wir hier nicht.“ Die Experten sagen: Es ist völlig illusionär zu
       glauben, dass wir in Hamburg in den nächsten Jahren weiterhin jährlich
       10.000 Wohnungen bauen können. Es gibt schlicht nicht die Flächen.
       
       Da wirkt die Ära der Neuen Heimat fast paradiesisch: Es wurde gebaut und
       gebaut. Was war bis Ende der 1980er-Jahre so anders? 
       
       Es gab im Wohnungsbau das Prinzip der [2][Gemeinnützigkeit]. Die
       Gemeinnützigkeit hat es möglich gemacht, dass diese Millionen von
       bezahlbaren Wohnungen überhaupt gebaut werden konnten. Das war ein sehr
       intelligentes Konzept: Die Neue Heimat hat mit ihrem gemeinnützigen Teil
       durchaus Gewinne gemacht, aber es durfte an die Aktionäre nur eine
       Dividende von vier Prozent ausgeschüttet werden – der ganze Rest musste
       reinvestiert werden und damit mussten neue Wohnungen gebaut werden. Das ist
       auf die Dauer auch ein schwieriges Geschäftsmodell, aber die Neue Heimat
       hat gewaltige Steuererleichterungen bekommen, jeder andere freie
       Wohnungsbauer musste hohe Steuern zahlen, das mussten die Gemeinnützigen
       wie die Neue Heimat nicht.
       
       Damit war Schluss, als die Neue Heimat ab Mitte der 1980er in eine
       [3][schwere Krise geriet] und schließlich abgewickelt wurde … 
       
       Nicht die Krise der Neuen Heimat allein hat zum Ende der Gemeinnützigkeit
       geführt, sondern ab 1982 regierte die CDU mit Helmut Kohl als Kanzler und
       Gerhard Stoltenberg als Finanzminister. Den beiden und ihrer Partei war die
       Gemeinnützigkeit völlig unabhängig von der Neuen Heimat immer ein Dorn im
       Auge: Das war Sozialismus! Das musste weg! Das Bauen sollte der Markt
       machen. Also wurde dafür gesorgt, dass Ende der 1980er-Jahre die
       Gemeinnützigkeit, und zwar nicht nur, was Wohnungsbaugesellschaften anging,
       abgeschafft wurde. Damit wurde gleichzeitig der soziale Wohnungsbau
       abgeschafft: Die Bestände wurden privatisiert, auch die Kommunen haben ihre
       Bestände verkauft. Das ist der Grund für die aktuelle Diskussion in Berlin:
       Die Berliner Regierung überlegt den Rückkauf der Wohnungsbestände, die das
       Land in jener Zeit an Großinvestoren verkauft hat. Das Konstrukt der
       Gemeinnützigkeit hatte einen gesellschaftlichen Bereich geschaffen, der
       nicht in erster Linie profitorientiert war. Es hatte nichts mit
       Sozialismus zu tun, es war eine Art dritter Weg.
       
       Was waren die Folgen für den Wohnungsbestand? 
       
       Es gab vor der Wiedervereinigung in der alten Bundesrepublik vier Millionen
       Sozialwohnungen, die von den gemeinnützigen Wohnungsbauunternehmen, aber
       auch von anderen Unternehmen errichtet worden sind. Dieser Bestand [4][ist
       abgeschmolzen worden] auf höchstens eine Million – so ganz genau weiß man
       das nicht. Und noch eine Zahl: Im vergangenen Jahr wurden gerade mal 27.000
       Sozialwohnungen gebaut. In ganz Deutschland! Das ist ein Tropfen auf den
       heißen Stein. Wobei Hamburg mit ungefähr 5.000 Wohnungen Vorreiter ist.
       
       Was kann man nun tun? Das [5][Prinzip der Gemeinnützigkeit] wieder
       einführen? 
       
       Die [6][Experten] sagen, das Prinzip der Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau
       kann man im großen Stil nicht wiederherstellen. Das ist allemal vorbei, und
       es macht wenig Sinn, über neue gemeinnützige Großunternehmen zu reden. Aber
       der Staat kann und muss handeln: Das beginnt damit, wie er mit seinen
       eigenen Grundstücken und Gebäuden umgeht, mit seinem Grund und Boden. Und:
       Der Staat kann auch selbst bauen. Und so wird ein Begriff wichtig, den es
       seit einigen Jahren kaum noch gibt: kommunaler Wohnungsbau. Wir alle kennen
       das Beispiel Wien: Die Stadt Wien baut Wohnungen und zwar im großen Stil!
       Und behält sie und verkauft sie nicht. Und der Boden, auf dem die Wohnungen
       stehen, gehört ihr auch und zwar für alle Ewigkeiten.
       
       Geld vom Staat, damit bezahlbarer Wohnraum entsteht? 
       
       Wenn der Staat Geld in die Hand nimmt und es vergibt, dann nicht für
       jedermann, sondern man müsste das mit Auflagen verbinden: für wen mit
       welchem Einkommen und welcher sozialen Lage wird gebaut, also eine Rückkehr
       zum sozialen Wohnungsbau. Wichtig: Die entstehenden Sozialwohnungen müssten
       eine [7][lange Bindun]g erhalten. Denn die derzeitigen Projekte, auch in
       Hamburg, haben Mietbindungen von zum Teil nur fünf Jahren. Und keiner weiß,
       was danach passiert. Das geht natürlich nicht. Früher gab es Mietbindungen
       von 30 Jahren, aber noch besser wäre die unendliche Bindung, und da muss
       sich die Politik bewegen.
       
       Die Politik muss sich bewegen, postulieren Sie generell, nicht nur die SPD.
       Wie sieht es mit der Wohnungsbaupolitik der Grünen aus? 
       
       Die Grünen interessieren sich zumindest derzeit für Fragen nach dem
       Wohnungsbau nicht so wirklich. Die Grünen sind zu großen Teilen gesettelt,
       und die alten, sozialen Fragen werden ausgeblendet, weil es sie individuell
       in ihrem Leben nicht oder kaum gibt – die Frage etwa nach bezahlbarem
       Wohnraum, die stellt sich nicht. Es sind die Young Urbanites, die
       ordentlich versorgt sind, gut ausgebildet, die gute Jobs haben. Und die
       „Wohnungsnot!“ schreien, weil sie nicht in Hamburger Stadtvierteln wie
       Eimsbüttel oder Ottensen wohnen können. Aber nicht, weil sie es sich nicht
       leisten könnten, sondern weil der Wohnungsmarkt dort leergefegt ist. Die
       können zwischen 1.500 und 2.000 Euro an Miete für eine Wohnung zahlen und
       das tun sie dann auch. Von daher ist ihre Problemwahrnehmung auch anders.
       
       Gehen wir mal weg vom Geld, denn die Art des Wohnens ist ja mehr, ist
       Lebensstil, Identität, gesellschaftliche Verortung. Was erzählt uns da die
       Neue Heimat? 
       
       Es gab nach dem Krieg große Zerstörungen und es gab wenig Wohnungen. Aber
       es begann schon in der 1960er-Jahren, dass sich der Charakter der alten
       Industriegesellschaft und damit der Arbeiterkultur änderte. Die Neue Heimat
       hat sich nie explizit programmatisch geäußert. Aber: Sie wollte immer
       modern sein. Und sie wollte eigentlich mit der alten Arbeiterkultur nicht
       mehr viel zu tun haben. Es gibt einen Spruch des langjährigen Vorsitzenden
       [8][Albert Vietor], der sinngemäß gesagt hat: „Wir bauen nicht für
       Proleten.“ Man kann es auch vornehmer ausdrücken: Wir sind nicht für die
       sehr einkommensschwachen Schichten zuständig. Man wollte schon am
       gesellschaftlichen Aufstieg auch der Arbeiterschaft und der unteren
       Mittelschicht mitwirken. Man wollte eine neue Lebenswelt schaffen, wo das
       auch sichtbar wurde: moderne Wohnviertel, gut ausgestattet, die Wohnungen
       mit dem bestückt, was man technisch bieten konnte.
       
       Sie haben sich Jahre mit der Neuen Heimat beschäftigt, sind tief
       eingestiegen. Was hat Sie überrascht? 
       
       Mir war die Neue Heimat seit Kindheitstagen als Big Player vertraut. Man
       konnte in den 1960-Jahren an jeder Straßenecke die Bauschilder sehen: „Hier
       baut die Neue Heimat“. Was mich erstaunt hat: wie viel die Neue Heimat
       insgesamt gemacht hat und das bezieht sich nicht nur auf die enorme Zahl
       von gebauten Wohnungen. Das Klinikum Aachen, das Urban-Krankenhaus in
       Berlin, das Kongresszentrum am Dammtor oder auch das Elbe-Einkaufszentrum
       in Hamburg, alles gebaut von der Neuen Heimat. Und wenn man da eintaucht,
       merkt man, wie viel Power damals hinter diesem Unternehmen steckte. In der
       Hochzeit der SPD, also Ende der 1960er bis Anfang 1970er, in der
       Willy-Brandt-Zeit, fühlte sich die Neue Heimat wie der Staat im Staate. Es
       gibt eine Anekdote, die das illustriert: Als ein Wechsel im Bonner
       Bauministerium anstand, wurde der Vorsitzende der Neuen Heimat gefragt, ob
       er nicht Bauminister werden wollte. Und er habe geantwortet: „Ich werde
       nicht Minister, ich mache Minister.“ So war die Stimmung.
       
       Ausstellung: „Die Neue Heimat (1950–1982). Eine sozialdemokratische Utopie
       und ihre Bauten“, 27. Juni bis 6. Oktober 2019, Museum für Hamburgische
       Geschichte 
       
       Ausstellungskatalog „Die Neue Heimat (1950–1982). Eine sozialdemokratische
       Utopie und ihre Bauten“, Herausgeber: Andres Lepik, Hilde Strobl, 236
       Seiten mit 235 Abbildungen, 29,90 Euro. 
       
       Dokumentation „Neue Heimat. Das Gesicht der Bundesrepublik. Bauten und
       Projekte 1947–1985“, Herausgeber: Ullrich Schwarz, Schriftenreihe des
       Hamburgischen Architekturarchivs, Bd. 38, 808 Seiten, 960 historische und
       Farbabbildungen, 79 Euro 
       
       Mehr zur Neuen Heimat und und was wir von ihr lernen können finden Sie in
       der gedruckten taz am Wochenende oder [9][hier]
       
       21 Jun 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.hamburg.de/bsw/wohnungsbau/4029174/wohnungspolitik/
 (DIR) [2] /Geschichte-der-Neuen-Heimat/!5578648/
 (DIR) [3] https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2018/geduld/der-sinn-eines-unternehmens-vorwaerts-und-vergessen
 (DIR) [4] https://www.manager-magazin.de/lifestyle/artikel/miete-zahl-der-sozialwohnungen-in-deutschland-geht-drastisch-zurueck-a-1273129.html
 (DIR) [5] https://www.berliner-mieterverein.de/magazin/online/mm0917/neue-wohnungsgemeinnuetzigkeit-wohnungsunternehmen-wollen-keine-steuerbefreiung-091722.htm
 (DIR) [6] https://www.zia-deutschland.de/fileadmin/Redaktion/Pressemitteilungen/Downloads/7_gute_Gruende_gegen_eine_neue_Wohnungsgemeinnuetzigkeit_endversion.pdf
 (DIR) [7] https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-02/bgh-urteil-sozialwohnungen-bundesgerichtshof-genossenschaft-sozialbindung
 (DIR) [8] https://www.zeit.de/1982/20/die-schuld-hat-man-mir-zugewiesen/komplettansicht
 (DIR) [9] /!114771/
       
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