# taz.de -- Debatte Sozialdemokratie in der Krise: Die SPD muss etwas riskieren
       
       > Zögerlichkeit, eine tote Sprache, die Groko und keine Ideen für die Zeit
       > jenseits der Volksparteien. Wenn die SPD so weitermacht, verliert sie
       > alles.
       
 (IMG) Bild: Warum begreift die SPD nicht, dass der Mitte-Kurs derzeit ins Grab führt?
       
       Die SPD ist in keinem momentanen Tief, das mit einem entschlossenen
       Führungswechsel zu beheben ist. Sie hat auch nicht gerade Pech, weil die
       Grünen beim Klimaschutz, dem Thema 2019, die klarere Antwort haben. Es
       nutzt auch nichts, die kommenden Wahlniederlagen tapfer zu ertragen, weil
       die Zeiten schon wieder besser werden. Die SPD weiß nicht, welche Rolle sie
       in einer Zeit nach den Volksparteien spielen soll.
       
       Sie verfolgt noch immer eine Strategie, die jahrzehntelang funktional war,
       aber in der zusehends individualisierten Gesellschaft und einem
       aufgefächerten Parteiensystem lähmend wirkt. Sie will in die Mitte, nicht
       aus Überzeugung, eher aus Gewohnheit und weil ihr nichts Besseres einfällt.
       
       Ein Rückblick: Die letzte Chance, dem Abwärtssog zu entkommen, tat sich im
       Frühjahr 2017 auf. Beim Hype um Martin Schulz waren viele Projektionen im
       Spiel, er offenbarte aber auch ein vitales Bedürfnis nach etwas anderem:
       nach Gerechtigkeit und Deutlichkeit.
       
       Die SPD war nicht in der Lage, diese Wünsche zu bedienen. Erst beerdigte
       sie nach der Wahlniederlage im Saarland panisch Rot-Rot-Grün. Den Wahlkampf
       bestritt man mit einem Dutzend Forderungen, an die sich niemand mehr so
       recht erinnern kann. Die einzige originelle Idee – das Chancenkonto, eine
       durch die Erbschaftsteuer finanzierte Möglichkeit für alle, sich
       weiterzubilden oder ein Sabbatical zu machen – versteckte man sorgsam im
       Wahlprogramm.
       
       ## Ritual und Routine
       
       Später komplettierte die Partei das Desaster durch einen Zickzackkurs in
       der Frage, ob sie noch einmal die für sie existenzbedrohende Rolle als
       Merkels Juniorpartner spielen solle. Erst auf keinen Fall, dann irgendwie
       doch. Die SPD trat, als Opfer widriger Umstände, in die Regierung ein. So
       weit, so bekannt.
       
       Für die SPD ist die Große Koalition fatal: Sie zwingt zu Kompromiss und
       Ähnlichkeit, dabei bräuchte sie unbedingt Distinktion. Warum begreift die
       SPD nicht, dass der Mitte-Kurs derzeit ins Grab führt? Gelegentlich blitzt
       auch bei der Parteiführung diese Erkenntnis mal auf, um dann regelmäßig
       wieder zu verglühen.
       
       Es gibt zwei Antworten. Politik ist in der SPD eine technokratische Sache,
       die von einem Personal umgesetzt wird, dem man den mühsamen Aufstieg durch
       den Apparat ansieht. [1][Leute geben den Ton an, denen, wie Robert Misik
       schrieb,] „die Zwänge des Parteiapparats und die Logik der Verwaltung zur
       zweiten Natur geworden sind“. Für Wahlkämpfe wird Leidenschaft simuliert,
       der man unschwer anmerkt, dass sie Ritual und Routine ist. [2][Andrea
       Nahles ist nicht zuletzt daran gescheitert,] dass bei ihr die beiden
       Bilder, die wütende Marktplatzagitatorin und die kühle Verwalterin, schroff
       unverbunden nebeneinanderstanden.
       
       Zweitens: Die Regierungsfalle. Die SPD, heißt es, musste in die Groko
       eintreten, weil sie öffentlich unter Druck stand. So war es nicht. Sie
       hätte Nein sagen können, aber sie konnte kein Nein begründen. Es gab in
       ihrem Wahlprogramm, vielleicht außer der Bürgerversicherung, nichts, bei
       der die Union nicht irgendwie – give and take – nachgeben konnte.
       
       ## Die Partei als Kompromissmaschine
       
       Hätte die SPD mit Eurobonds, Digitalsteuer für Konzerne und 12 Euro
       Mindestlohn Wahlkampf gemacht – die Verhandlungen wären geplatzt. Aber die
       SPD hatte schlicht keine Idee, was sie außer ein paar sozialpolitischen
       Reparaturen wollte. In der SPD haben Ministerialbürokratie und Fraktion das
       Sagen, die kühne Ideen als störend empfinden.
       
       Die SPD dämpft ab, was als radikal empfunden werden könnte. Sie nimmt den
       Kompromiss vorweg. Wenn sich wie im Frühjahr 2017 mal die Chance bietet,
       schwungvoll etwas ganz anders zu machen, ist sie überfordert.
       
       Die SPD ist eine Kompromissmaschine. Das war so lange sinnvoll und
       effektiv, wie das Parteiensystem um SPD und Union zentriert war. Wer die
       Mitte gewann, sich als kompromissfähiger und flexibler präsentierte, wurde
       belohnt. Allerdings haben sich Union und SPD in diesem Rennen gegenseitig
       zu Tode gesiegt. Die SPD ist unter Schröder marktliberal geworden, die
       Union unter Merkel sozialdemokratisch. Seitdem wirken beide wie zwei
       ausgebleichte Flügel einer Staatspartei.
       
       Bei der Europawahl haben weniger als 45 Prozent Union und SPD gewählt. In
       manchen östlichen Bundesländern liegen CDU, SPD, Grüne, AfD und Linkspartei
       dicht beieinander, zwischen 12 und 20 Prozent. In NRW gibt es drei große
       (CDU, Grüne, SPD) und drei kleine Parteien (AfD, FDP, Linke) Das System mit
       einer sozialen, liberalen und einer konservativen, marktorientierten
       Volkspartei franst aus. Doch in dieser Ära nach den Volksparteien verändert
       sich die politische Logik komplett: Die Mitte ist nicht mehr der magische
       Ort.
       
       ## Die Partei als Konsensmaschine
       
       In dem neuen, unübersichtlichen Sechsparteiensystem zahlen sich Kompromiss,
       Moderation und Mittefixierung nicht mehr aus. Im Gegenteil: Parteien müssen
       deutlich sein, klar mit einem Ziel identifiziert werden, um überhaupt
       wahrgenommen zu werden. Dieses neue System belohnt eher Leichtsinnige,
       Performer, auch Populisten, Schöngeister wie Robert Habeck – aber keine
       Figuren der Apparate wie Andrea Nahles oder Hubertus Heil. Die SPD hat
       nichts, was in dem neuen aufgesplitteten, stimmungsdurchlässigen
       Parteiensystem belohnt wird.
       
       Die Konsensmaschine SPD, die immer nur das Machbare vorschlägt,
       verschwindet vom Wahrnehmungsradar. Zwei Drittel der BürgerInnen wissen
       nicht, wofür die SPD steht. Manche Sozialdemokraten appellieren nun ratlos,
       dass man nicht länger Gemischtwarenladen sein darf. Das spiegelt das
       Dilemma, eine Lösung ist es nicht. Denn was dann? Bioladen? Feinkost? Aldi?
       
       Wenn die SPD so weitermacht wie bisher, verliert sie alles. Sie hat zu
       lange nichts riskiert. Entweder sie wird schnell jünger, sozial- und
       wirtschaftspolitisch radikaler, lustiger, kreativer, digitaler – oder sie
       wird auch das eigene Verschwinden verwalten.
       
       3 Jun 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-09/sozialdemokratie-spd-wahlniederlage-wandel/komplettansicht
 (DIR) [2] /Ruecktritt-von-Andrea-Nahles/!5599736
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Reinecke
       
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