# taz.de -- Andreas Rettig über Nachhaltigkeit: „Der Fußball braucht eine neue DNA“
       
       > Der Geschäftsführer von St. Pauli will die Attraktivität der Profiligen
       > durch ökologische und soziale Auflagen steigern. Es brauche „die
       > nachhaltigste Liga der Welt“.
       
 (IMG) Bild: Die ökologische Bilanz nach 90 Minuten Fußball ist in diesem Fall auf Schalke nicht sonderlich gut
       
       taz: Herr Rettig, Sie wollen das Lizenzierungsverfahren für
       Profifußballvereine erweitern. Warum? 
       
       Andreas Rettig: Es ist ein überkommener Ansatz, hauptsächlich nach
       wirtschaftlichen Kennzahlen die Attraktivität und die Wettbewerbsfähigkeit
       einer Liga zu beurteilen. Wir müssen auch dem Wertewandel Rechnung tragen.
       Deshalb wollen wir neben den bekannten Kriterien für die Vergabe einer
       Lizenz – sportlicher Erfolg, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Nachweis
       eines Jugendleistungszentrums, administrative, infrastrukturelle und
       medientechnische Standards – ein weiteres einführen: Nachhaltigkeit und
       soziale Verantwortung.
       
       Was heißt das genau? 
       
       In einer Zeit, in der eine Generation heranwächst, die ihre Kinder nicht
       mehr Cristiano oder Lionel nennt, sondern Greta und Rezo, wo Kinder und
       Jugendliche auf die Straße gehen und gegen den Klimawandel demonstrieren,
       sollte man diesen Wertewandel nicht außen vor lassen. Der kann sich in den
       unterschiedlichsten Projekte niederschlagen: eine Solaranlage auf dem
       Stadiondach oder wie bei uns die Ansiedlung eines Bienenvolkes, aber vor
       allem die Inklusion aller Bevölkerungsgruppen in den Klub, um die
       Mitbestimmung und Teilhabe am Vereinsleben für alle gesellschaftlichen
       Gruppen zu öffnen oder Flüchtlinge besser zu integrieren.
       
       Ist das nicht ein wenig aufgesetzt? 
       
       Es geht auch um konkrete Themen, die mit den Bundesliga-Wochenenden
       zusammenhängen. Wir bewegen in einer Spielzeit mehr als 18 Millionen
       Menschen in die Stadien der ersten beiden Ligen, warum soll es nicht mal
       einen autofreien Spieltag geben? Am Ende jedes Spieltags werden viele
       Lebensmittel weggeworfen und viel Plastik verbraucht. Auch am helllichten
       Tage muss während eines Spiels das Flutlicht brennen, damit die
       Fernsehbilder noch minimal besser werden. Ist das wirklich zwingend
       notwendig oder können wir einen kleinen Verlust der Bildqualität nicht doch
       verschmerzen, um Strom einzusparen? Das alles sind Themen, mit denen wir
       uns beschäftigen sollten.
       
       Soll es für die Lizenzierung eines Klubs wirklich in Zukunft wichtig sein,
       dass er nicht nur ökonomisch und sportlich funktioniert, sondern ein
       Solardach auf dem Stadion hat? 
       
       Solche Fragen habe ich oft gehört, als ich von 2000 bis 2006 beim Deutschen
       Fußball-Bund (DFB) den Vorsitz der Kommission für die
       Nachwuchs-Leistungszentren innehatte. Damals hieß es: Soll ein Verein die
       Lizenz für die Bundesliga nicht bekommen, nur weil er kein Leistungszentrum
       betreibt? Genau das ist heute die allseits akzeptierte Praxis, doch bis
       dahin war es ein langer Weg.
       
       Nachwuchszentren braucht man für den nachhaltigen Erfolg des deutschen
       Fußballs, Bienenvölker nicht. 
       
       Klar: Bienen schießen keine Tore, aber es geht darum, aus Überzeugung
       umzudenken. Das zahlt dann auf die Attraktivität des Profifußballs und des
       Standortes ein.
       
       Haben Sie keine Angst, mit Ihren Vorschlägen in dieser Milliardenbranche
       als hoffnungslos naiv belächelt zu werden? 
       
       Wir wollen, dass diese Themen einen größeren Stellenwert bekommen, wollen
       einen Prozess anstoßen, mit dem Ziel einer Selbstverpflichtung der Vereine
       oder einer Aufnahme in die Lizenzierungsstatuten. Wir sind seit Jüngstem
       darüber im Kontakt mit der Deutschen Fußball Liga und den anderen
       Profiklubs und haben von einigen Vereinen sofort positive Resonanz bekommen
       Ich kann Ihnen nur eines sagen: Wir werden nicht als Träumer belächelt.
       
       [1][Statt um Nachhaltigkeit bemühen sich die Spitzenteams der ersten Liga
       vor allem darum,] international mit den Geldligen wie der englischen
       Premier League mitzuhalten, deren Klubs gerade in der Champions League
       zeigen, dass Geld doch Tore schießt. 
       
       Die Premier League ist uns wirtschaftlich enteilt und wir können – selbst
       wenn wir wollten – nicht mit ihr konkurrieren. In der Premier League gibt
       es fast ausschließlich investorengeführte Klubs: Man kann einen
       wirtschaftlichen Wettstreit gegen Oligarchen, Staatsfonds und chinesische
       Konglomerate aber nicht gewinnen, wenn man wirtschaftlich
       verantwortungsbewusst handelt.
       
       Was ist die Alternative? 
       
       Die Liga braucht eine neue DNA. Wir brauchen nicht die Liga mit den
       teuersten Stars, sondern die nachhaltigste, vielleicht auch sozialste oder
       emotionalste Profiliga der Welt. Schon heute lassen viele
       Wirtschaftsunternehmen ihre Nachhaltigkeit zertifizieren. Warum soll das in
       einem Business wie dem Profifußball, das mit seinen ersten beiden Ligen
       mehr als vier Milliarden Umsatz macht, nicht funktionieren? Dieses Thema
       müssen wir angehen, und über diesen Imagetransfer könnte es gelingen,
       besonders junge Leute wieder gefühlsmäßig näher an den Profifußball
       heranzuholen. Ich denke, wir sind auf dem Weg der emotionalen Entfremdung
       vieler Fans vom Profifußball.
       
       Woran machen Sie das fest? 
       
       Als die Bundesliga 1963 startete, kickten die Teams aus Vereinen, die
       ausschließlich den Mitgliedern gehörten, mit Spielern überwiegend aus der
       jeweiligen Gegend gegeneinander. Im Laufe der Jahre haben immer mehr
       Investoren, Kapitalgeber und Aktionäre diese Struktur verändert. Dadurch
       haben sich die Interessenlagen verändert, und andere strategische
       Überlegungen als in einem mitgliedergeführten Verein fließen ins
       Tagesgeschäft ein. Stadien sind für viele Fans eine zweite Heimat, was sich
       oft auch in einer regionalen Namensgebung ausdrückte: Dreisam-Stadion,
       Müngersdorfer Stadion, Waldstadion, Neckar-Stadion. Daher kommt eine
       Emotionalität, wenn der Stadionname verkauft wird. Fußball ist eben so viel
       mehr als Unterhaltung, viel emotionaler. Wie leidenschaftlich singen die
       Freiburger Fans vor dem Spiel das Badener Lied, mit welcher Inbrunst
       schmettern die Kölner ihre Hymne und welcher Spirit herrscht am Millerntor,
       wenn „Hells Bells“ gespielt wird. Hier geht es um Identifikation. Dass bei
       einem Kino- oder Theaterbesuch die Zuschauer vor dem Stück aufstehen und
       singen, ist für mich schwer vorstellbar …
       
       Trotz immer mehr Kommerz: Die Stadien sind voll, die Einschaltquoten
       immens. Die These, der Fan würde den ganzen Kommerz irgendwann nicht mehr
       ertragen, lässt sich mit Zahlen nicht belegen. 
       
       Emotionalität und Fußballliebe sind nicht messbar, die reinen
       Zuschauerzahlen sagen da auch wenig aus. Man kann einen Besuch im Stadion
       als austauschbares Event begreifen, wo man mal hingeht, um sich die Zeit zu
       vertreiben, oder es ist der Höhepunkt der Woche, wenn der eigene Verein
       spielt.
       
       Daraus folgt? 
       
       Wir müssen wieder das Spiel, diese 90 Minuten, in den Vordergrund rücken.
       Wenn ich Musik hören möchte, gehe ich ins Konzert, wenn ich mich
       unterhalten lassen möchte, ins Kino oder Theater. Die Grenze ist
       überschritten, wenn Halbzeitshows Auswirkungen auf das Spiel haben, wie
       seinerzeit beim letzten Saisonspiel der Bayern gegen Freiburg. Bei uns am
       Millerntor gibt es Minuten vor dem Anpfiff keine Werbung: Dann gehört den
       Fans das Stadion.
       
       [2][Wie sehen Sie die zukünftige Rolle des FC St. Pauli] im immer
       kommerzieller werdenden Fußball-Zirkus? 
       
       Auch der FC St. Pauli muss Geld verdienen, um seine Werte weiter zu
       transportieren, in einer Liga, von der aus er gehört wird. Die Bezirksliga
       nutzt da keinem was. Wir müssen den Spagat hinbekommen, zwischen dem
       Anspruch, mit den großen Jungs pinkeln zu wollen, und der Verpflichtung,
       nicht jeden kommerziellen Blödsinn mitzumachen. Da gibt es im Verein
       ständige hitzige Diskussionen, was noch opportun ist und was nicht.
       
       Wo wäre für Sie persönlich die Grenze erreicht, an der Sie sagen: Dieses
       Fußball-Business ist nicht mehr meins? 
       
       Wenn ein Bundesligist einen Sumo-Ringer ins Tor stellt, um die
       größtmögliche Aufmerksamkeit auf dem asiatischen Markt zu erlangen.
       
       4 Jun 2019
       
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