# taz.de -- Kolumne Lügenleser: Pünktlichkeit statt Solidarität
       
       > Am Montag streiken die Berliner Verkehrsbetriebe. Doch Verständnis für
       > die Arbeitsniederlegung haben in diesem Land offenbar nicht viele.
       
 (IMG) Bild: Zum Streiken in Deutschland gehören bunte Westen und Trillerpfeifen
       
       Der Mann ist wütend. Er rüttelt an der Tür der Bahnhofs. „Da fährt nüscht
       heute!“, klärt ihn eine vorbeilaufende Frau auf. Ich warte einfach nur auf
       eine Freundin und schaue mir das größtmögliche Alman-Desaster an. [1][Die
       Berliner Verkehrsbetriebe streiken.] Damit sie endlich einen angemessenen
       und fairen Lohn bekommen. Warum man eben so streikt.
       
       Verständnis für die Arbeitsniederlegung haben offenbar nicht viele. Im
       Gegenteil. Deutschland ist wahrscheinlich das einzige Land der Welt, in dem
       man sich darüber beschwert, dass man es nicht pünktlich zur Lohnarbeit
       schafft, wenn die Bahn mal nicht fährt. Man erinnere sich nur an die
       Medien-Kampagne gegen [2][Eisenbahner und Gewerkschaftsfunktionär Claus
       Weselsky], als der tatsächlich mal die Machtfrage stellte. Der Focus
       bezeichnete ihn damals als den „meistgehassten Deutschen“. Ich mein, gut,
       Hitler war Österreicher und Björn Höcke gab es damals in der Form noch
       nicht, aber da wird sich ja bestimmt noch jemand anderes finden als ein
       störrischer Gewerkschafter.
       
       Auch wenn irgendwelche Linksradikalen es mal wieder für eine gute Idee
       halten, Gleisanlagen zu zerstören, ist die Aufregung groß. Pünktlichkeit
       ist ein heiliges Gut in Deutschland. Wer sich ihr in die Quere stellt, ist
       ein Volksfeind.
       
       ## Brennende Barrikaden aus Solidarität
       
       In Frankreich, wo die andere Hälfte meiner Familie lebt, ist das irgendwie
       anders. Wenn Milchbauern streiken, zünden Taxifahrer aus Solidarität
       Barrikaden an und Fischer kippen Abfälle vor das Parlament. Wenn die
       Franzosen streiken, dann kracht es ein paar Wochen und der Notstand wird
       aufgerufen. Zumindest gefühlt verhält es sich dort so. Streiken Deutsche,
       dann sieht man meist irgendwelche Menschen mit orangefarbenen Westen
       morgens um 5 Uhr mit Trillerpfeifen im Mund Kaffee ausschenken. Und das
       auch nicht live auf einer blockierten Hauptstraße, sondern im
       „Morgenmagazin“.
       
       Und die Bevölkerung meckert. Klar, mehr Lohn will jeder haben, aber doch
       bitte nicht auf meine Kosten. Oder so. Das Problem dabei: Solidarität ist
       keine Einbahnstraße und auch keine weltfremde Demo-Parole, wenn es gerade
       mal wieder um Kurdistan oder den [3][Hambacher Forst] geht. Denn, wo wir
       schon bei Demo-Parolen sind, Solidarität muss praktisch werden. Punkt.
       
       All das würde ich dem wütenden Mann jetzt gerne sagen, der immer noch vor
       dem verschlossenen Bahnsteig steht und sich aufregt, dass er es nicht auf
       die Minute zu seiner Arbeit schafft. Aber ich bin zu fasziniert von seiner
       Beharrlichkeit, wie er vor der Tür steht und nicht gewillt ist, nach
       Alternativen zu suchen. Schimpft in den leeren Raum hinein, statt sich in
       die Frühlingssonne zu setzen und seinem Chef zu schreiben, dass er etwas
       später kommen wird. Da fällt mir endlich das passende Lenin-Zitat ein.
       „Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen
       Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!“ Old but
       gold.
       
       2 Apr 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Tarifkonflikt-bei-der-BVG/!5584421
 (DIR) [2] /Bahn-Buendnis-kritisiert-teure-Projekte/!5581518
 (DIR) [3] /Polizeieinsatz-im-Hambacher-Forst/!5580110
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Juri Sternburg
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Lügenleser
 (DIR) BVG
 (DIR) Streik
 (DIR) Deutschland
 (DIR) Solidarität
 (DIR) Österreich
 (DIR) Mexiko
 (DIR) Matthias Matussek
 (DIR) Lügenleser
 (DIR) Hate Speech
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kolumne Lügenleser: Die Gebote der Schluchtenscheißer
       
       Wenn man glaubt, mehr rechts außen geht wirklich nicht mehr – dann kommt
       ein FPÖ-Minister eines österreichischen Bundeslandes daher.
       
 (DIR) Kolumne Lügenleser: Mord, Drogen – und natürlich: Tacos
       
       In Serien und Filmen wird ein eigentümliches Bild von Mexiko vermittelt.
       Klar, das Land hat unbestritten Probleme. Aber wie viel Klischee ist okay?
       
 (DIR) Kolumne Lügenleser: Die Blut-und-Boden-Party
       
       Matthias Matussek, der alte Mann, der immer schon so schrieb, wie andere
       alte Männer das mochten, feierte Geburtstag – und alle, alle kamen.
       
 (DIR) Kolumne Lügenleser: Kein Freund und Helfer
       
       Die Polizei soll darauf achten, dass die Regeln eingehalten werden. Was
       aber, wenn sie ein unkontrollierbares Eigenleben entwickelt?
       
 (DIR) Kolumne Lügenleser: Nach unten treten
       
       Eine rechte Internetarmee hat die absurde Angst, zur Minderheit zu werden.
       Warum eigentlich? Werden Minderheiten etwa schlecht behandelt?