# taz.de -- Kolumne Zwischen Menschen: Alle mit dabei
       
       > Wir hängen im Zusammenleben aneinander, ob wir wollen oder nicht. Die
       > Probleme der anderen sind auch unsere Probleme. Sogar in der S-Bahn.
       
 (IMG) Bild: Schicksalsgemeinschaft: Reisende am Hamburger Hauptbahnhof an einem S-Bahn-Gleis
       
       S-Bahn-Station Reeperbahn. Ich renne zum Zug, der gerade einfährt, ein
       Drängeln und Drücken entsteht. Die S-Bahnen fahren an diesem Morgen
       unregelmäßig. Alle wollen die nächstbeste Bahn zum Hauptbahnhof erwischen,
       um von dort weiterzukommen. Müde Menschen, auf dem Weg zur Arbeit, die noch
       nicht offen sind an diesem Morgen für die Welt, kämpfen um Platz: jeder für
       sich. Nichts scheint jetzt wichtiger, als es noch in diese vollgestopfte
       Bahn zu schaffen.
       
       Und dann knallt wie ein unverhoffter Blitz ein böser Zufall in diese
       Wirklichkeit. Ein Moment, weswegen man sich später fragt, warum man bloß
       ausgerechnet diese Bahn genommen hat. Beim Einsteigen drängeln sich zwei
       junge Männer vor. Sie stoßen aggressiv, sie haben beide rot unterlaufene
       Augen. „Nicht drücken“, ruft eine Frau empört.
       
       Die Männer rempeln weiter. Und dann wird klar, warum: Sie haben Angst. Ein
       anderer Mann jagt auf dem Bahnsteig hinter ihnen her. Auch er will in den
       Wagen, doch der ist nun voll. Der Mann steht draußen auf dem Gleis uns
       anderen im Abteil gegenüber. Er ist voller Wut, er brüllt. Unkontrolliert
       schlägt er auf den Mann mit den roten Augen ein, der noch vorne am Eingang
       steht. Seine Faust trifft auch die Menge.
       
       Wir ducken uns, weichen zurück. Aber wir können nicht mehr einzeln handeln.
       Wir stecken zusammen fest. Wie ein großer Körper schwanken wir hin und her.
       Wir haben Angst. Dann endlich gehen die Türen zu.
       
       Der Mann ist nun draußen ausgeschlossen. Wir stöhnen erleichtert auf. Er
       hämmert nun von außen gegen die Tür. Der Mann innen hämmert zurück. Nur die
       Glasscheibe schützt uns jetzt.
       
       Und dann ertönt plötzlich ein alltägliches, ein schreckliches Geräusch. Es
       zischt: Die Türen gehen wieder auf. Wir schreien. Wir stehen wie vor einem
       Löwen-Käfig, dessen Gitter sich gerade geöffnet hat. Der Mann ist wieder
       direkt vor uns. Er will wieder zuschlagen, doch dann kommt jemand auf dem
       Gleis dazu und hält ihn fest. Endlich schließen die Türen wieder. Die Bahn
       fährt los.
       
       Wir atmen aus. Und jetzt, nach der Angst, kommt die Wut. Im Sicheren
       schauen nun alle böse auf die Männer, die uns in ihre Gefahr gezogen haben.
       „Worum ging es eigentlich“, fragt eine Frau. „Na, Drogen“, sagt eine andere
       vorwurfsvoll.
       
       Der Mann an der Tür mit den roten Augen blickt nach unten, als wollte er
       nicht, dass wir seine Augen sehen, als würde er sich schämen.
       
       „Geht es dir gut“, ruft eine kleine Frau neben mir. Ich registriere erst
       jetzt, dass der Mann eine Brille trägt, dass der Schlag ihm das Gestell ins
       Gesicht gedrückt hat, dass es ihm weh getan haben muss.
       
       ## Die Schuldigen sind Teil unserer Situation
       
       Der Mann antwortet nicht. Die kleine Frau fragt wieder: „Wie geht es dir?“
       Ich schaue sie an. Sie würde nicht auffallen in der Menge, aber die Frage
       macht sie zu einer Art Führungspersönlichkeit. Sie scheint die Situation
       wie aus einer weiteren Sicht zu betrachten, als würde sie wissen, dass es
       manchmal nicht ums Rechthaben geht, sondern darum, dass es allen gut geht –
       auch denen, die Mist gebaut haben. Für einen kurzen Moment wirkt die
       Situation wie ein zusammengepresstes Beispiel für etwas Größeres.
       
       Die Nähe hat eine Tatsache herausgequetscht: Wir hängen im Zusammenleben
       aneinander, ob wir wollen oder nicht. Die Probleme der anderen sind auch
       unsere Probleme. Es funktioniert nicht, die Schuldigen anzuprangern und sie
       auszustoßen. Sie sind Teil unserer Situation.
       
       Der Mann mit den roten Augen nickt jetzt: „Ja, ist okay.“ Und vielleicht
       liegt es an der Frage, die ihn als Mensch gemeint hat, oder daran, dass die
       Gefahr vorbei ist. Ein paar im Wagen fangen an zu witzeln, erleichtert
       darüber, dem Zufall noch einmal unverletzt davongekommen zu sein. Die
       angespannte Energie, die uns so verhärtet hat, weicht auf, wir lockern uns
       nun auch als Menge. Und auf einmal, wer weiß schon warum, gibt es für jeden
       einzelnen ein ganz kleines Stückchen mehr Platz.
       
       8 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christa Pfafferott
       
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