# taz.de -- Braindrain in der Türkei: Abflug ins Ausland
       
       > Seitdem die AKP hart gegen Kritiker*innen vorgeht, wandern
       > hochqualifizierte Türk*innen in die EU ab. Besonders Deutschland ist
       > beliebt.
       
 (IMG) Bild: Wegen politischer Repressalien wandern viele Akademiker*innen aus der Türkei ab
       
       Zurück in die Türkei? Nein, warum auch? In Berlin stimme alles: das
       internationale Umfeld, die über Bekannte schnell gefundene Wohnung, die
       Freizeit mit Musikgruppe und Fußball. Sein Monatsgehalt sei nicht besonders
       hoch, dafür aber bekommt IT-Spezialist Umut Yalcin* im Gegensatz zu seiner
       früheren Stelle in Istanbul für seine Arbeit Anerkennung. In dem
       internationalen Unternehmen, einer Holdinggesellschaft, die sich auf
       Mikrofinanzen spezialisiert hat, fühlt er sich von Kollegen und
       Vorgesetzten respektiert. Auch Heimweh muss er nicht allzu lange ertragen.
       Dreimal im Jahr fliegt der Akademikersohn nach Ankara, wo seine Eltern
       leben.
       
       Yalcin ist einer von vielen türkischen Hochqualifizierten, die in den
       vergangenen Jahren der Türkei den Rücken gekehrt haben und ins Ausland
       ausgewandert sind, häufig nach Deutschland. „Es war ein schleichender
       Prozess“, bilanziert er in einem Café in Berlin-Mitte seine damaligen
       Auswanderungsabsichten. Den Anfang machte die Unterdrückung der
       Gezi-Proteste im Sommer 2013. „Wie beim ersten Fehler in einer
       Liebesbeziehung“, sagt er, habe er darüber hinweggesehen.
       
       Seit Monaten dauert in der türkischen Öffentlichkeit eine Debatte über den
       Braindrain an: die Abwanderung von Akademikern, Hochqualifizierten und
       anderen Leistungsträgern. Anlass ist eine Nachricht vom letzten Jahr, dass
       mehrere Dutzend hochqualifizierte Führungskräfte türkischer Rüstungsfirmen
       wie Aselsan insbesondere in die Niederlande abwanderten.
       
       Anfang des Jahres lehnte das türkische Parlament mit der Stimmenmehrheit
       der Regierungspartei AKP den Vorschlag der Oppositionspartei CHP ab, eine
       Untersuchungskommission zum Braindrain einzurichten. Die AKP-Regierung
       räumt zwar das Problem ein und versucht ihrerseits, mit finanziellen
       Anreizen Hochqualifizierte zur Rückkehr zu bewegen. Mit Verhaftungen und
       Beschuldigungen von Akademikern und Kritikern sendet sie zugleich andere
       Signale.
       
       Die Auswandererzahlen sind beunruhigend: Wanderten laut dem türkischen
       Statistikamt TÜIK 2016 noch 69.326 türkische Staatsbürger aus, so stieg
       deren Zahl innerhalb eines Jahres um 63 Prozent auf 113.326. Für die Türkei
       ist das ein sehr hoher Verlust. Damit verliert das Land nicht nur einen
       Teil seines qualifizierten Personals ans Ausland, sondern auch die
       Investitionen in die Bildung dieser Menschen – laut einer Ende des
       vergangenen Jahres veröffentlichten Analyse der Oppositionspartei CHP zum
       Braindrain verliert das Land so über 220 Milliarden Dollar.
       
       ## Mit der Blue Card nach Deutschland
       
       Was die Türkei in ihrer Entwicklung um Jahre zurückwerfen könnte, ist für
       Deutschland ein Glücksfall. Hochqualifizierte wie Yalcin sind hier sehr
       begehrt. Mit der Blauen Karte EU erleichtert Deutschland seit 2012 die
       Einwanderung von Hochqualifizierten aus Nicht-EU-Staaten. Bis Ende Juni
       vergangenen Jahres hielten sich laut Bundesamt für Migration und
       Flüchtlinge 2.113 türkische Staatsbürger mit der Blauen Karte hier auf.
       Damit lag die Türkei 2018 im Ranking nach Indien, China, der Russischen
       Föderation und der Ukraine und noch vor den USA immerhin an fünfter Stelle.
       
       Die Gründe für die Talentabwanderung sind vielfältig. Die zunehmend
       repressive politische Situation spielt eine wichtige Rolle. Yalcin hat noch
       einen anderen Grund. Über Jobangebote aus dem Ausland konnte sich der
       34-Jährige auch früher schon nicht beklagen. Erst sein ungeliebter Job bei
       Vodafone in Istanbul setzte ihn in Bewegung. Glücklich wurde er dort nicht,
       erzählt er, „in den Arbeitspausen trank ich Alkohol, um das Mobbing eines
       Vorgesetzten aushalten zu können“. Laut Yalcin ist dieser ein Günstling mit
       niedrigerer Qualifikation als er. „In dieser Zeit suchte ich jeden Tag nach
       Jobs im Ausland“, erinnert er sich heute.
       
       Die CHP wundern Günstlinge nicht. Die AKP habe die Meritokratie
       abgeschafft, heißt es in der CHP-Analyse. „Selbst der Privatsektor ist von
       der Vetternwirtschaft erfasst worden“, will Yalcin beobachtet haben. Der
       kritische Punkt war für ihn mit dem Ausnahmezustand nach dem Putschversuch
       im Juli 2016 erreicht. Ein finanziell attraktives Angebot aus Irland schlug
       er zunächst aus. „Zu weit weg von Ankara.“
       
       Deutschland hat für die neuen türkischen Einwanderer noch weitere Vorzüge
       als nur die relative Nähe: Hier existiert die größte türkische Community
       außerhalb der Türkei. Die neue Welle türkischer Einwanderer findet
       hierzulande eine türkischsprachige Infrastruktur aus Geschäften, Vereinen,
       Institutionen und Verbänden vor, die die ersten Einwanderer aus der Türkei
       aufgebaut haben. „Ein größeres Netzwerk dürfte die Integration erleichtern
       und die Wachstumseffekte verstärken“, glaubt Marius Clemens vom Deutschen
       Institut für Wirtschaftsforschung. Längst hat sich außerdem eine virtuelle
       Gemeinde der „Neuen Welle“-Einwanderer entwickelt. Über soziale Medien wie
       Facebook unterstützen sich die Neuen gegenseitig in alltäglichen Belangen.
       
       ## Übergriffe wegen kurzer Hosen
       
       Deutschland und die Türkei sind sich über die Türkeistämmigen näher
       gerückt, als man glaubt. „Die Türkeistämmigen leben in einem
       real-virtuellen transnationalen Raum zwischen beiden Ländern“, stellt der
       Migrations- und Türkeiforscher Yasar Aydin fest. „So entstehen Brücken und
       Netzwerke. Das begünstigt die Migration in beide Richtungen.“ Aydin
       vergleicht die Zu- und Abwanderung zwischen beiden Ländern über lange
       Zeiträume. 2006 wanderten im Gegensatz zu früher erstmals mehr Menschen aus
       Deutschland in die Türkei ab, als umgekehrt aus der Türkei nach Deutschland
       zuwanderten. Zu Tausenden gingen hochqualifizierte Deutschtürken, die in
       Deutschland studiert hatten, in die Türkei.
       
       [1][Der Braindrain fand damals in die andere Richtung statt.] Der Trend
       setzte sich bis 2014 fort. 2015 gab es eine Kehrtwende. Die Zuzüge aus der
       Türkei nach Deutschland sind von 21.508 im Jahr 2015 auf 28.431 im Jahr
       2017 angestiegen. „Dieser Trend dürfte sich aufgrund von politischen
       Ereignissen in der Türkei fortsetzen“, vermutet Aydin. Laut der CHP-Analyse
       verlassen auffallend häufig Junge zwischen 20 und 34 Jahren, die städtische
       und weltgewandte Bildungselite, die Türkei. Der Anteil der Frauen ist von
       37 Prozent in 2016 innerhalb eines Jahres auf 41 Prozent gestiegen.
       
       Derya Sözeri* lebt seit zwei Jahren in Berlin. Die 32-Jährige hat nach der
       Rückkehr von einem dreijährigen Studienaufenthalt aus Amerika nach Istanbul
       2015 auf eine Gelegenheit gewartet, die Türkei zu verlassen. Ein Grund sind
       Verdächtigungen und Denunziationen, sagt Sözeri. Einmal in die Nähe der
       Gülen-Bewegung gerückt, seien Personen in der Türkei für immer
       gebrandmarkt und verlören dadurch jegliche Aussicht auf einen Job. Die
       türkische Regierung [2][sieht in der Gülen-Bewegung eine
       Terrororganisation].
       
       Das habe dazu geführt, dass so manch einer andere Firmen und Personen als
       Gülen-Anhänger denunziere, um Konkurrenten auszuschalten, glaubt Sözeri.
       Dies sei dem liberalen Unternehmen in Istanbul passiert, in dem sie
       arbeitete. Das amerikanische Unternehmen habe die Istanbuler Zweigstelle
       seitdem aufgegeben. Über Sözeri selbst, die sich als politisch links
       versteht, hätten sich wegen ihrer Tattoos Kunden beschwert. Auf offener
       Straße habe sie außerdem Übergriffe erlebt, weil sie Shorts trug. Als ihr
       Arbeitgeber ihr vor zwei Jahren einen Arbeitsplatz in einer Berliner
       Filiale anbot, zögerte sie nicht lange.
       
       *Namen wurden auf Wunsch geändert, aus Angst vor Repressionen in der
       Türkei.
       
       7 Feb 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.spiegel.de/lebenundlernen/job/spiegel-zu-braindrain-wissenschaftler-wandern-ab-a-955141.html
 (DIR) [2] https://www.tagesspiegel.de/politik/was-ist-die-guelen-bewegung-die-zwei-gesichter-von-erdogans-suendenbock/19347388.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hülya Gürler
       
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