# taz.de -- Halbjahreszeugnisse an Berliner Schulen: Ich knülle das Zeugnis zusammen
       
       > Schlechte Schulnoten stürzen einige Schüler in die Verzweiflung. Aber was
       > sagen sie tatsächlich aus? Unsere junge Autorin macht sich Gedanken dazu.
       
 (IMG) Bild: Das Zeugnis: oft Grund für Kummer und Sorge
       
       Langsam senke ich den Kopf und starre auf das Blatt Papier, das gerade vor
       mich gelegt wurde. Ich starre fest darauf und kann trotzdem nichts
       erkennen. Die schwarze Schrift verschwimmt zu großflächigen Punkten, die
       sich wild hin und her bewegen. Fast wirkt es wie ein modernes Kunstwerk.
       
       Neben mir bricht Nelly in Tränen aus. Ich brauche nicht zu ihr
       hinüberzugucken, um den Grund für ihre Trauer zu kennen. Nelly weint nicht,
       weil ihre Mutter Spätschicht arbeitet und sie sie kaum zu Gesicht bekommt.
       Nelly weint nicht, weil ihr Vater ihre Mutter und sie sitzen gelassen hat.
       Nelly weint, weil auf dem Blatt Papier vor ihr ein paar schwarze Zahlen
       stehen.
       
       Ein paar Zahlen, die ihr sagen, dass sie versagt hat. Ein paar Zahlen, die
       all ihre Anstrengungen zunichtemachen. Ein paar Zahlen, die ihr die
       Hoffnung nehmen.
       
       Rechts neben mir beginnt die Streberclique aufgeregt, ihre Noten zu
       vergleichen. Wer hat wie viele Zweien, wer hat wie viele Einsen? Ist der
       Schnitt über oder unter 2,0? Luxusprobleme für Nelly, aber für die vier
       Mädchen ernsthafte Fragen. Immerhin haben sie den Großteil ihrer Freizeit
       damit verbracht, Wissen zu verschlingen. Oder nein, eigentlich haben sie
       nur Schulstoff verschlungen, um ihn bei der nächsten Arbeit wieder
       auszukotzen.
       
       ## Dem Druck standhalten
       
       Ich weiß, dass sie alle miteinander nicht blöd und dass sie alle sehr
       fleißig sind. Aber ich weiß auch, dass sie sich in einem halben Jahr an
       nichts mehr erinnern werden. Sie werden viel zu sehr damit beschäftigt
       sein, dem Stress, dem Druck standzuhalten, den die Lehrer, die Eltern und
       schlussendlich auch sie selbst sich aufbauen.
       
       Wer einmal gut war, der darf nie wieder schlecht sein. So lautet das
       Gesetz.
       
       Weiter vorne sitzen die Mittelmäßigen. Sie freuen sich, wenn bei Sport und
       Religion eine 1 steht, aber sie ärgern sich über die 3 in Deutsch. Mündlich
       haben sie doch super mitgearbeitet, sich bei jeder Frage gemeldet und tolle
       Antworten gegeben. Nur schriftlich läuft es leider noch nicht so gut. Da
       schreibt man halt doch mal zwei Vieren, obwohl man sich alle Mühe gegeben
       und fünf Tage vorher angefangen hat zu lernen.
       
       Und so steht in Deutsch dann eine 3 und niemand wird wissen, was der Junge
       mit diesem Zeugnis eigentlich kann. Niemand wird wissen, dass er engagiert
       ist, niemand wird wissen, dass er kreativ ist. Die Noten interessiert das
       nicht. Sie sind zu nüchtern, um Kreativität zuzulassen.
       
       ## Was sagen die Zahlen über mich aus?
       
       Uns wird tagtäglich erzählt, von dem Zettel vor uns hänge unser ganzes
       Leben ab. Aber was sagt das schon über mich aus? Was haben diese Zahlen von
       1 bis 6 mit mir zu tun? Zeigen sie, dass ich nach der Schule im
       Flüchtlingsheim helfe? Zeigen sie, dass ich einfach zu schüchtern bin, um
       mich zu melden? Zeigen sie, dass es bei dem einen Lehrer einfach unmöglich
       ist, eine 1 zu schreiben? Nein!
       
       Helfen sie mir wenigstens, mich zu verbessern? Auf meinem Halbjahreszeugnis
       stand eine 4 in Chemie. Es war eine 4 minus mit viel Auge-Zudrücken. Jetzt
       steht wieder eine 4 da, diesmal jedoch eine 4 plus, knapp, an der 3 minus
       vorbei. Niemand wird das wissen, wenn ich ihm das Zeugnis zeige. Meine
       Eltern werden schimpfen, mir Hausarrest geben und irgendwie doch dafür
       sorgen, dass ich auf dem Gymnasium bleiben muss. Wahrscheinlich ist der
       Mensch einfach zu dumm, um andere Menschen nach etwas anderem als nach
       nüchternen Zahlen zu bewerten.
       
       Ich stehe auf und gehe durch den Mittelgang des Klassenzimmers. Fröhliche
       Gesichter wechseln sich mit traurigen oder gar verzweifelten ab. Bei
       manchen könnte man glatt Selbstmordgedanken befürchten.
       
       Die Lehrerin steht vorne etwas hilflos und weiß nicht, was sie tun soll.
       Soll sie trösten oder lieber streng bleiben und behaupten, wir hätten es
       uns selbst zuzuschreiben? Was hätten wir uns selbst zuzuschreiben? Dass der
       Leistungsdruck Kinder in die Depression treibt? Dass man schon in der 7.
       Klasse die Hälfte seiner Freizeit fürs Lernen hergibt, weil ja alles
       ungemein wichtig für die Zukunft ist? Dass man sich vor einem einfachen
       Vortrag vor Aufregung übergibt und danach nur enttäuscht ist, weil es trotz
       der ganzen Mühen nur zu einer 3 gereicht hat?
       
       Ich knülle das Zeugnis in meiner Hand zusammen und schmeiße es in den
       Papierkorb. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, verschwinde ich aus dem
       Klassenzimmer.
       
       Cara Biester, 15, war Schülerpraktikantin der taz Berlin.
       
       28 Jan 2019
       
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 (DIR) Cara Biester
       
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