# taz.de -- Die Wahrheit: Piranhas der Lüfte
       
       > Rotkehlchen im Blutrausch: Heimische Singvögel reagieren mittlerweile in
       > besorgniserregend brutaler Weise auf das Insektensterben.
       
 (IMG) Bild: So süß? Angriffe durch Singvögel sind hierzulande ein Tabuthema…
       
       Eine Studie belegte jüngst, dass die Biomasse der Insekten weltweit seit
       1989 um 76 Prozent zurückgegangen ist. Dieses massive Insektensterben hat
       gravierende Folgen für die Pflanzenwelt und die Landwirtschaft. Aber auch
       die insektenfressenden Tiere sind vom Schwund betroffen. Immerhin stellen
       Kerbtiere die Hauptnahrung von 60 Prozent aller deutschen Vogelarten dar.
       Seit einiger Zeit mehren sich nun Anzeichen, dass nicht wenige unserer
       Singvogelpopulationen sich offenbar auf das Verschwinden ihrer
       Hauptnahrungsquelle eingestellt haben. Sie spezialisieren sich zunehmend
       auf andere, größere Beutetiere.
       
       Am 20. März 2018 ging eine Rentnerin aus Ahnatal bei Kassel mit ihrem
       Dackel Karl-Heinz spazieren, als sie plötzlich von aggressiven Blaumeisen
       attackiert wurde. „Es war ein riesiger Schwarm“, gab die geschockte Frau zu
       Protokoll. „Zuerst gingen sie auf mich los.“ Doch das sollte nur ein
       Ablenkungsmanöver sein. Während ein Meisenteil der alten Frau ätzenden Kot
       ins Gesicht spritzte, griff der Schwarmrest den altersschwachen Karl-Heinz
       an und riss ihn binnen Minuten in Stücke.
       
       Als die Polizei eintraf, hing nur noch ein Dackelskelett an der Leine.
       
       „Das Opfer sah aus wie nach einem Piranha-Angriff“, schreibt der
       Ornithologe Nikolaus Olm, der mit seinem Team diese und andere Attacken
       dokumentiert hat. Allein für 2018 haben die Wissenschaftler 44 Übergriffe
       durch Singvögel gesammelt.
       
       Vergangenen Januar brachen Rotkehlchen in einen Hühnerstall in Oberfranken
       ein und brachten in einem wahren Blutrausch 23 Hühner und einen Hahn zur
       Strecke. Zum Frühlingsanfang wurden bei einer Bienenfresserattacke in einem
       Erholungsgebiet in der Nähe von Augsburg zwei Badende leicht verletzt und
       ein Golden-Retriever-Welpe entführt. Im April sprengte eine Gang
       marodierender Grasmücken einen Grillabend in Sachsen-Anhalt und machte sich
       mit den Spare-Ribs aus dem Staub.
       
       ## Es war die Nachtigall …
       
       Zu wiederholten Angriffen auf weidende Tiere kam es im Juni in
       Mecklenburg-Vorpommern. „Wir hatten erst den Wolf im Verdacht“, erklärte
       Bauer Gunter Guntram, der bei den Angriffen vier Kühe und 13 Schafe
       verloren hat. Das Team von Nikolaus Olm untersuchte die Überreste der
       angegriffenen Tiere und stellte einschlägige Schnabelspuren fest. „Es war
       die Nachtigall und nicht der Lupus“, stellt Olm fest.
       
       Im September überfiel eine Allianz aus Fliegenschnäppern und
       Steinschmätzern einen Kebab-Laden im Landkreis Regensburg. Die Tiere
       verursachten einen Schaden von mehreren tausend Euro. Der Besitzer behielt
       den Vorfall lange Zeit für sich. Er hatte Angst, nicht ernst genommen zu
       werden.
       
       „Die Dunkelziffer ist hoch“, weiß Nikolaus Olm. Denn Angriffe durch
       Singvögel sind immer noch ein Tabuthema in unserer Gesellschaft. Die
       Betroffenen melden die Vorfälle oft nicht, sei es aus Scham, sei es aus
       Angst, für verrückt erklärt zu werden.
       
       Übergriffe auf Menschen sind selten, aber sie nehmen zu. So wurde am
       Neujahrstag dieses Jahres ein Jogger im Odenwald von einem Schwarm
       Zaunkönige bis zur vollkommenen Erschöpfung verfolgt und krankenhausreif
       gepickt. Dass der Mann mit dem Leben davonkam, hatte er einem zufällig
       vorbeikommenden Förster zu verdanken, der die Vögel vertrieb.
       
       „Bislang gibt es keine Todesfälle zu beklagen“, so Olm, „aber das könnte
       sich schon bald ändern, wenn das Problem nicht ernst genommen wird. Wir
       müssen jetzt handeln, bevor im Frühjahr wieder die Brutzeit beginnt!“
       
       ## Super-Predator Blaumeise
       
       Vor allem die Blaumeisen könnten langsam zum Super-Predator mutieren. Olm
       und sein Team haben zwei Jahre lang eine Blaumeisen-Population in dem
       kleinen Dorf Stieglitz in Mecklenburg-Vorpommern beobachtet, wo es zu
       besonders vielen Vorfällen gekommen war.
       
       „Mit jeder Generation werden die Tiere ein wenig größer und stärker“, sagt
       Olm. „Wir haben Blaumeisen eingefangen, die so groß wie Ferkel und so
       aggressiv wie Kampfhunde sind.“
       
       Die Bewohner von Stieglitz haben sich längst auf die Bedrohung eingestellt.
       Kinder dürfen nicht mehr draußen spielen und der Kindergarten ist mit
       Stacheldraht, Vogelscheuchen und Selbstschussanlagen gesichert. Außerdem
       werden flächendeckend vergiftete Hackfleischköder ausgelegt.
       
       „Der falsche Weg“, meint Olm. „Die neueste Generation von Blaumeisen hat
       eine Rattengift-Resistenz entwickelt. Und sie sind nachtragend. Äußerst
       nachtragend.“ Tatsächlich scheinen die Tiere immer schlauer zu werden und
       ausgeklügelte Jagdstrategien zu entwickeln, weil ihre Gehirne durch die
       proteinreiche Nahrung ständig größer werden. Allerdings verschwindet ihr
       Gesang langsam. Die Blaumeisen aus dem Dorf Stieglitz etwa zwitschern gar
       nicht mehr, sie geben nur noch Knurr- und Grunzlaute von sich.
       
       Mittlerweile nehmen sich auch die Behörden des Themas an. So hat die
       Polizei eine „Soko Piepmatz“ ins Leben gerufen. Außerdem gibt es eine
       Singvogel-Hotline, bei der Betroffene sich melden können.
       
       Dass die Attacken durch Singvögel bislang so wenig Aufmerksamkeit erregten,
       liegt vor allem daran, dass die Angriffe zumeist in abgeschiedeneren,
       ländlichen Gegenden passierten. „Echte Stadtvögel haben das Problem nicht,
       die finden immer etwas zu fressen“, erklärt Nikolaus Olm. „Auf dem Land
       wirkt sich das Insektensterben viel stärker auf das Fressverhalten der
       Vögel aus.“
       
       ## Amsel mit Waschbär intus
       
       Allerdings wurde vor Kurzem eine acht Kilo schwere Amsel in Berlin
       eingefangen, in deren Magen sich ein halbverdauter Waschbär befand. Man
       kann also davon ausgehen, dass die mordlustigen Vögel sich bald auch in die
       Städte ausbreiten könnten.
       
       In der Provinz müssen die Menschen schon jetzt mit der piependen Bedrohung
       leben. In den abgeschiedenen Wäldern der Eifel, wo gänsegroße Bachstelzen
       und Mehlschwalben von den Ausmaßen eines Flugsauriers marodieren, ist ein
       mysteriöser Donnervogel-Kult entstanden. Die primitiven Dörfler errichten
       den Vögeln Altäre und bringen Opfergaben dar. Bislang weiß man nur von
       geopferten Tieren, allerdings verschwinden in letzter Zeit immer wieder
       Wanderer in der Gegend.
       
       „Religion ist keine Lösung. Wir müssen das Problem rational angehen“,
       meint Nikolaus Olm. Der Wissenschaftler erinnert daran, dass Vögel die
       nächsten Verwandten der Dinosaurier sind und möglicherweise noch einiges
       davon in ihren Genen steckt. „Wenn die Vögel sich auf ihr Dinosaurier-Erbe
       besinnen, könnte es böse ausgehen für die Menschheit“, warnt er.
       
       Dass er damit nicht ganz falsch liegt, zeigt ein Fund aus Süddeutschland.
       Im Bayerischen Wald wurden gestern Abend Fußspuren gefunden, die denen
       eines jungen T-Rex nicht unähnlich sind. Gleichzeitig weisen gewisse
       Merkmale auf einen Wachtelkönig hin. Auf einen Wachtelkönig vom Gewicht
       eines Nashorns.
       
       Die Bundeswehr patrouilliert zurzeit die Gegend rund um die Uhr, aber
       bislang wurde das rätselhafte Tier noch nicht gesichtet. „Hoffentlich
       finden sie ihn, bevor er sie findet“, sagt Nikolaus Olm besorgt.
       
       14 Jan 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Francis Kirps
       
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