# taz.de -- Seenotretter Claus-Peter Reisch: Ein Kapitän mit Mission
       
       > Claus-Peter Reisch ist zum Gesicht der Seenotrettung von Flüchtlingen
       > geworden. Dabei wollte nur einen schönen Urlaub in der Ägäis machen.
       
 (IMG) Bild: Claus-Peter Reisch trifft ein Crew-Mitglied der Lifeline in Valetta
       
       Landsberg taz | Im Sommer 2015 segelte Claus-Peter Reisch mit seiner
       Lebensgefährtin von Sardinien in die griechische Ägäis. Eine Freizeittour
       im Mittelmeer. Von Bootsflüchtlingen, die auf gefährliche Weise versuchten,
       von Afrika nach Europa zu gelangen, war da schon die Rede. „Auf der Reise
       haben wir uns gefragt“, erinnert sich Reisch, „was wir machen, wenn uns ein
       Flüchtlingsboot begegnet.“ Die Antwort stellte ihn nicht zufrieden. „Auf
       unserem Zwölf-Meter-Schiff haben wir Platz für maximal zehn Flüchtlinge.“
       Doch was wäre mit den anderen 80 oder 100 Personen auf dem Schlauchboot?
       „Für sie hätten wir nichts tun können, außer einen Notruf absetzen.“
       
       Das bohrte in ihm. Reisch ist ein Mensch, man merkt es schnell, der sich
       nicht einfach zufriedengibt. Es war der Anfang seines Weges zu Deutschlands
       bekanntestem Retter, zum Retter von Bootsflüchtlingen. Nach seinem
       Griechenland-Urlaub wandte er sich an die Regensburger Hilfsorganisation
       „Sea Eye“, die mit ihren Schiffen Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken
       rettet. Er bot sich als Helfer an, sie machten ihn zum Kapitän. Im Frühjahr
       2016 fuhr er seine erste Mission. Dann wechselte er zu der Gruppe „Mission
       Lifeline“, die ihren Sitz in Dresden hat. Bekannt wurde er mit dem
       gleichnamigen Schiff „Lifeline“, seinem bisher letzten: Mit 234
       Flüchtlingen an Bord musste er Ende Juni dieses Jahres tagelang durch das
       Mittelmeer irren, ehe das Boot in Malta im Hafen von Valetta einlaufen
       konnte.
       
       Seitdem liegt die „Lifeline“ dort, sie ist beschlagnahmt. [1][Und gegen
       Reisch läuft seit Juli auf der Insel ein Prozess, zu dem er als Angeklagter
       immer wieder hinfliegt.] Claus-Peter Reisch ist zum Kopf, zum Symbol der
       Seenotrettung geworden. Viele sehen ihn als einen humanitären Helden.
       Andere beschimpfen ihn als Unterstützer des Schlepperwesens.
       
       Mittlerweile blickt er auf diese Zeit zurück, die sein Leben
       durcheinandergewirbelt hat. Beispielsweise auf jene Tage im November 2017,
       als die Crew mit Flüchtlingen auf dem Schiff „bei Brutalst-Seegang“ zur
       italienischen Insel Lampedusa steuerte. Sie räumten die Maschinistenkabine,
       dort kamen eine Familie mit zwei Kindern sowie drei Männer unter. Die
       anderen lagen im Quergang des Schiffes und verstopften damit alle Wege – zu
       Maschinenraum, Toilette, Waschraum, Kapitänskabine, zu den beiden
       Seitendecks.
       
       Er denkt an große Männer, die er gerettet hat und die nur 45 Kilogramm
       wogen. An schwer misshandelte Menschen mit großen Narben und offenen
       Wunden, die er aus dem Meer gezogen hat. An schwangere Frauen, die während
       ihrer Flucht durch den afrikanischen Kontinent bis nach Libyen ganz sicher
       nicht nur einmal vergewaltigt worden waren.
       
       Jetzt sitzt Claus-Peter Reisch am Esstisch in seinem Haus in Landsberg am
       Lech, er hat Kuchen gekauft und Cappuccino gekocht. Gleich zu Beginn holt
       er ein Dokument heraus, das Zertifikat der Bootszulassung der „Lifeline“.
       Damit will, damit muss er anfangen. Dass man das Schiff festgesetzt hat,
       dass ihm in Malta 11.600 Euro Geldstrafe oder gar ein Jahr Haft drohen. Er
       wird beschuldigt, dass sein Schiff nicht registriert sei, demnach als
       staatenlos gelte und keine Flüchtlinge hätte aufnehmen dürfen.
       
       „Schauen Sie“, ruft er, „hier steht: Flag – Dutch. Home port – Amsterdam“.
       Das Schiff fährt unter holländischer Flagge, Heimathafen ist Amsterdam.
       „Das ist normal, alle Rettungsboote der Hilfsorganisationen sind in den
       Niederlanden zugelassen“, sagt Reisch. Denn für eine deutsche Genehmigung
       sind sie zu groß. Für ihn ist klar, um was es Malta tatsächlich geht: „Man
       versucht mit allen Mitteln, die Seenotrettung abzuwürgen.“ Weniger Schiffe
       bringen weniger Geflüchtete, Malta ist aufgrund seiner Lage einer der am
       meisten betroffenen Mittelmeerorte.
       
       „Ich bin ja eher gutbürgerlich“, sagt Claus-Peter Reisch, der jetzt 57
       Jahre alt ist. Und: „Ich bin kein linksradikaler Steinewerfer.“ Politik
       hatte ihn früher nicht allzu brennend interessiert. „Wie jeder andere auch
       bin ich wählen gegangen, habe auch mal mein Kreuz bei der CSU gemacht.“ Er
       ist ausgebildeter Kfz-Mechaniker und Kaufmann. 2008 hatte er seine Firma,
       einen Betrieb für Sanitär- und Heizungsprodukte, weitgehend eingestellt.
       Als „Frührentner“, wie er sich bezeichnet, sei er finanziell abgesichert.
       „Ich habe ja auch relativ viel Zeit gehabt“, erinnert er sich. Und: „Ich
       habe alle deutschen Sportbootpatente, alles, was das Sportbootherz
       begehrt.“
       
       ## Ein kleines Krankenhaus auf dem Schiff
       
       Es begann so etwas wie das zweite Leben des Claus-Peter Reisch. Er ist ein
       Schaffer, ein hartnäckiger Arbeiter, ein Organisator. Zuletzt hatte er an
       Bord der „Lifeline“ eine 18-köpfige Crew. Sie arbeiteten als Offiziere,
       Ingenieure, Ärzte, Krankenschwestern, Sanitäter, Maschinisten. Sie waren
       ein Fachanwalt für Mietrecht, ein Heizungsunternehmer, ein pensionierter
       Herzchirurg, ein Medizinstudent, Rettungssanitäter, ein Lkw-Mechaniker.
       Letzterer war laut Reisch „ideal für den Dieselmotor“. Sie haben ein
       kleines Krankenhaus auf dem Schiff mit drei Behandlungsplätzen,
       Beatmungsgeräten und Ultraschall. Nur operieren können sie nicht.
       
       Für all dies erfährt er viel Anerkennung: Der Satiriker Jan Böhmermann hat
       knapp 200.000 Euro zur juristischen Unterstützung Reischs gesammelt, der
       Münchner Kardinal Reinhard Marx spendete 50.000 Euro an „Mission Lifeline“.
       Die bayerische SPD-Landtagsfraktion ehrte ihn im Sommer mit dem
       Europapreis, im Dezember bekam er den Menschenrechtspreis der
       Österreichischen Liga für Menschenrechte. Er wird zu Vorträgen eingeladen,
       der Bayerische Rundfunk dreht einen Film über ihn.
       
       Doch führt nicht die Seenotrettung dazu, dass immer mehr Flüchtlinge übers
       Meer fahren mit der Hoffnung, dass sie irgend jemand auffischt? Claus-Peter
       Reisch wiegt den Kopf und verweist auf eine Studie der Universität Oxford
       genau zu diesem Thema. Ergebnis: Seenotrettung löse keine weitere Flucht
       aus. Aber: Je mehr Retter auf dem Meer unterwegs sind, umso weniger
       Menschen ertrinken.
       
       Es gibt auch harte Kritik. Immer wieder wird er als „Schlepper“ beschimpft
       und auch angepöbelt, etwa in Kneipen. Man sollte, so hatte der bayerische
       AfD-Politiker Andreas Winhart gefordert, „die ganzen Rettungsboote im
       Mittelmeer versenken“. Claus-Peter Reisch wiederum lässt sich in einem
       T-Shirt fotografieren, auf dem sarkastisch steht: „Schlepperkönig“. Doch
       wenn er erzählt, was er von den Geretteten über das Schlepperwesen erfährt,
       dann wird sehr deutlich, dass er damit nichts gemein hat. „Am Strand in
       Libyen steigen die Leute am Ende nicht freiwillig in die Schlauchboote
       ein“, sagt er. „Die sehen das Meer und bekommen Angst. Zwei oder drei von
       ihnen werden erschossen, dann gehen die anderen schon rauf.“ Der
       Schleuser-Betrieb muss laufen ohne Verzögerung, gleich kommen wieder Neue
       an.
       
       ## Schlauchboote aus geklebten Lkw-Planen
       
       Die Schlauchboote seien „nicht so, wie man sie sich vorstellt vom Material
       her“. Es seien „zusammengeklebte Lkw-Planen, ganz dünnes Zeug, das sofort
       beschädigt ist, one way“. Aufgepumpt werden sie mit Autoabgasen. Die sind
       erst heiß und kühlen dann ab. „Der Druck geht weg, deshalb werden die Boote
       sehr weich.“ Diese haben nur fünf Luftkammern – „wenn eine versagt, ist
       Feierabend“, meint Reisch, „dann geht das Ding unter“. Erst müssen die
       Menschen gerettet werden, so seine Devise, „danach kann man durchaus
       diskutieren, wie es mit ihnen weitergeht“.
       
       Reisch lebt in Landsberg in einem Einfamilienhaus. In seiner Straße reiht
       sich ein Haus ans nächste, die Gärten sind gleich groß, normaler geht es
       kaum. [2][Doch auf der großen „Ausgehetzt!“-Demonstration in München im
       Juli] hat dieser gutbürgerliche Mann das Mikrofon bekommen, auf dem
       Königsplatz, vor 50.000 Demonstranten. Das Motto lautete: „Gegen die
       Politik der Angst“. In aller Ruhe, so schien es, erklärte Reisch die
       Problematik auf Malta, dann sagte er: „Seenotrettung ist kein Verbrechen,
       es ist eine Pflicht. Unsere Schiffe müssen wieder fahren.“ Auf dem Platz
       herrschte erst atemlose Stille, dann setzte brandender Applaus ein. Es war
       erst die zweite Demo, auf der Claus-Peter Reisch überhaupt je war. Tags
       zuvor hatte es eine ähnliche Kundgebung mit ihm in Freiburg gegeben,
       allerdings nur mit 200 Teilnehmern.
       
       All das ist so massiv in sein Leben reingepoltert. Er erinnert sich an eine
       Szene auf der „Lifeline“ bei der letzten Mission im Juni mit den 234
       Flüchtlingen an Bord. In der Nacht macht er einen Rundgang, er schaut in
       die Krankenstation hinein. „Dort schlafen friedlich drei junge Muttis mit
       ganz kleinen Säuglingen im Arm.“ Dann sei er, „vor mich hin heulend“,
       zurück auf die Kommandobrücke gegangen und habe gedacht: „Genau darum mache
       ich das.“
       
       In dem Prozess auf Malta wird im Januar ein Urteil erwartet. Ob die
       „Lifeline“ je wieder in See sticht, „das weiß der Herr“, sagt Reisch.
       Innerhalb von zwei Wochen wäre eine Crew für eine neue Mission an Ort und
       Stelle – „dann könnten wir wieder losfahren“. Seine Organisation „Mission
       Lifeline“ jedenfalls hat jetzt zwei kleinere Sportsegelboote gekauft als
       möglichen Ersatz. Mit denen lässt sich auch einiges machen.
       
       26 Dec 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Seenotrettung-im-Mittelmeer/!5521863
 (DIR) [2] /Ausgehetzt-Demonstration-in-Muenchen/!5518633
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Patrick Guyton
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Mission Lifeline
 (DIR) Seenotrettung
 (DIR) Claus-Peter Reisch
 (DIR) Seenotrettung
 (DIR) Schwerpunkt Europawahl
 (DIR) Seenotrettung
 (DIR) Seenotrettung
 (DIR) Europarat
 (DIR) Seenotrettung
 (DIR) Seenotrettung
 (DIR) Seebrücke
 (DIR) Dinge des Jahres 2018
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Seenotrettung
 (DIR) Malta
 (DIR) Lifeline
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Urteil gegen „Lifeline“-Kapitän: Claus-Peter Reisch geht in Revision
       
       Vergangene Woche wurde der Kapitän des Rettungsschiffes „Lifeline“
       Claus-Peter Reisch zu 10.000 Euro Geldstrafe verurteilt. Nun legt er
       Revision ein.
       
 (DIR) Urteil gegen „Lifeline“-Kapitän: Der Störfaktor
       
       Claus-Peter Reisch muss nach der Seenotrettung aus dem Mittelmeer 10.000
       Euro spenden. Das Urteil wiegt schwerer als die Geldstrafe.
       
 (DIR) Seenotretter nach Treffen mit Seehofer: „Ich bin verblüfft, tatsächlich“
       
       Innenminister Horst Seehofer empfing am Donnerstag den Seenotretter
       Claus-Peter Reisch. Der ist hinterher fast schon begeistert vom
       CSU-Politiker.
       
 (DIR) Vowurf der Beihilfe zur illegalen Einreise: Kein Pardon für Menschenretter
       
       Weil er Geflüchtete im Mittelmeer vor dem Ertrinken rettete, wird gegen den
       Bremer Hendrik Simon in Italien ermittelt. Ihm drohen 20 Jahre Haft.
       
 (DIR) Geflüchtete in Griechenland: Rüge vom Anti-Folter-Komitee
       
       ExpertInnen des Europarats bezeichnen die Unterbringung von Flüchtlingen in
       Griechenland teilweise als menschenunwürdig.
       
 (DIR) Ärztin über Seenotrettung im Mittelmeer: „Sie waren unglaublich dankbar“
       
       Die Ärztin Nicole Grimske erzählt von ihrem Hilfseinsatz im Mittelmeer, von
       emotionalen Momenten an Bord und der Schwierigkeit, einen Hafen zu finden.
       
 (DIR) Seenotrettung auf dem Mittelmeer: Das Warten geht weiter
       
       Noch immer gibt es keine Lösung für die zwei privaten Seenotrettungsschiffe
       im Mittelmeer. Dutzende Menschen können nicht an Land.
       
 (DIR) Sichere Häfen für Flüchtlinge: Berlin liegt nicht am Meer
       
       Der Senat will aus Seenot Gerettete – etwa von der Seawatch3 – aufnehmen,
       doch Horst Seehofer mauert. Am Donnerstag Demo von Seebrücke.
       
 (DIR) Dinge des Jahres 2018: Die Mission der alten Dame
       
       Die „Lifeline“ rettete 2018 Geflüchteten das Leben. Zuvor war das Boot
       schottisches Forschungsschiff. Ein Protokoll eines alten
       Besatzungsmitglieds.
       
 (DIR) Flüchtlinge im Mittelmeer: Auch 2018 versagt Europa
       
       Italien lässt weniger Geflüchtete ins Land, in Libyen handeln kriminelle
       Banden mit Menschen. Tausende Menschen ertrinken im Meer. Eine Bilanz.
       
 (DIR) Bedingungen für Auslauferlaubnis: Sea-Eye soll Rettung einstellen
       
       Das Rettungsschiff „Seefuchs“ steckt in einem Hafen von Malta fest.
       Verlassen dürfe sie ihn nur, wenn die NGO Rettungseinsätze grundsätzlich
       aufgibt.
       
 (DIR) Maltas Rolle bei der Flüchtlingsrettung: In Szene gesetzt
       
       Derzeit ist kein Rettungsschiff auf dem Mittelmeer, warnen NGO's. Auch wenn
       Malta die „Aquarius“ anlegen ließ, sind weitere Einsätze gefährdet.
       
 (DIR) Seenotrettung im Mittelmeer: „Lifeline“-Kapitän darf ausreisen
       
       Der Kapitän des auf Malta liegenden Rettungsschiffs „Lifeline“ darf nach
       Deutschland reisen. Zum nächsten Prozesstag am 30. Juli muss er wieder
       zurück.