# taz.de -- Grünenchef Habeck über Europapolitik: „Boah, was für ein Move“
       
       > Seiner Co-Vorsitzenden Annalena Baerbock attestiert Robert Habeck eine
       > „grandiose Furchtlosigkeit“, der Bundesregierung dagegen
       > „Geschichtsvergessenheit“.
       
 (IMG) Bild: Schielt nicht auf Umfragewerte und innergrüne Befindlichkeiten: Robert Habeck
       
       taz: Herr Habeck, die Grünen liegen in Umfragen bei 20 Prozent. Macht Ihnen
       der Höhenflug manchmal Angst? 
       
       Robert Habeck: Nein. Die guten Umfragewerte sind ein Vertrauensvorschuss,
       der uns gewährt wird. Wir begreifen das als Ansporn.
       
       Wie stabil ist der Trend? Wählt wirklich ein Fünftel der Deutschen
       dauerhaft die Grünen? 
       
       Wir erleben eine neue Zeit der Parteiendemokratie. Die Bindekraft der
       Volksparteien nimmt ab. Immer für den gleichen Club, egal was die sagen
       oder tun, das ist vorbei. Menschen ändern ihre Meinung. Sie schauen, was
       sind die aktuellen Probleme, und wählen dann die Partei, der sie Lösungen
       zutrauen. Das ist wie Fernsehen 1980 und Streaming 2019. Das ist ein
       Spiegel unserer Gesellschaft.
       
       Ist das ein Problem oder eine Chance für die Grünen? 
       
       Das ist, wenn man die Demokratie als Wettstreit von Parteien und Politikern
       sieht, erst mal nichts Schlechtes. Parteien haben die Chance, mehr Leute
       von ihren Ideen zu überzeugen. Annalena Baerbock und ich treten dafür ein,
       für unsere Positionen auch gesellschaftliche Mehrheiten zu bekommen und
       dafür Bündnisse zu schmieden.
       
       Sie sind bald [1][seit einem Jahr Parteivorsitzender]. Was hat Sie im Amt
       am meisten überrascht? 
       
       Bevor Annalena und ich ins Amt gewählt wurden, gab es eine große Debatte,
       weil gesagt wurde, das sind doch zwei Realos, das geht doch nicht. Aber die
       Partei hat entschieden, dass es geht. Die Flügelfragen haben danach null
       Komma null Bedeutung gehabt. Das ist sehr wohltuend, weil es die Kraft
       freisetzt, sich auf den Inhalt zu konzentrieren.
       
       Was ist die wichtigste Änderung, die Baerbock und Sie angeschoben haben? 
       
       Das Beflügelndste für mich ist, dass es keine Angst gibt. Annalena und ich
       beantworten Fragen so, wie es uns richtig erscheint. Wir schielen nicht auf
       Umfragen oder innergrüne Befindlichkeiten – und scheuen uns auch nicht, für
       Verbote oder Steuern einzutreten, wenn es angebracht ist. Annalena bringt
       eine grandiose Furchtlosigkeit mit. Wissen Sie noch, wie sie damals ihre
       Kandidatur bekannt gemacht hat?
       
       Sie hatten der taz ein Interview gegeben, in dem Sie Ihre Kandidatur
       erklären wollten. Am Tag, bevor es erscheinen sollte, ging Baerbock mit der
       Nachricht an die Agenturen, dass sie Vorsitzende werden wolle. Sie hat
       Ihnen die Show gestohlen … 
       
       …und den Adventssonntag vermasselt, weil das Telefon nicht mehr stillstand.
       Aber ich dachte: Boah, was für ein Move. Sie ist einfach nach vorne
       gegangen, ohne sich vorher bei x Leuten in der Partei abzusichern.
       
       Ihre Co-Vorsitzende hat neulich [2][für schnellere Abschiebungen von
       straffällig gewordenen Asylbewerbern] plädiert. Warum ist es mutig, etwas
       zu fordern, was im Mainstream gut ankommt? 
       
       Weil sie sich traut, ein Dilemma offen auszusprechen. Wir fühlen uns
       Flüchtlingsrechten und Frauenrechten verpflichtet. Und wir wollen das nicht
       instrumentalisieren und gegeneinander ausspielen lassen. Eine solche
       komplexe Position in der Flüchtlingspolitik zu vertreten ist nicht leicht.
       Gerade, weil auch wir auf pauschalisierte Erwartungen treffen, siehe Ihr
       [3][taz-Kommentar.]
       
       Ihnen wird gelegentlich eher Überheblichkeit als Furchtlosigkeit
       attestiert. Sind Sie überheblich? 
       
       Ich hoffe nicht.
       
       Ist bei Vertretern der ökosozialen Wende nicht Überheblichkeit immanent,
       weil sie es besser zu wissen glauben als andere? 
       
       Das ist ein Klischee. Furchtlosigkeit fängt für mich bei kleinen Dingen an,
       etwa eine Sommerreise unter das Motto „Des Glückes Unterpfand“ zu stellen.
       Furchtlosigkeit heißt aber auch, dass wir inhaltliche Forderungen
       scharfstellen. Wenn wir Hartz IV durch eine sanktionsfreie und am Bedarf
       orientierte Garantiesicherung ersetzen wollen, machen wir uns nicht nur
       Freunde. Aber in der Sprache, im Umgang mit Wettbewerbern versuchen
       Annalena und ich uns von den politischen Ritualen, dem
       Immer-auf-den-Dez-hauen, zu befreien. Wichtig ist uns, kritisch, aber
       respektvoll und zugewandt zu sprechen.
       
       Früher wurde den Grünen gerne Besserwissertum vorgeworfen. 
       
       Niemand hat die Weisheit mit Löffeln gefressen. Und manchmal hat der oder
       die andere eben einen guten Punkt. Das öffentlich zu sagen, zum Beispiel in
       einer Talkshow, ist nicht ganz einfach. Der ganze politmediale Betrieb
       erwartet eigentlich, dass man wie ein Rechthaber auftritt.
       
       Die „Bild“-Zeitung hat Sie mal als „Mix aus George Clooney und Campino“
       bezeichnet. Ist es ein Fortschritt, dass männliche Politiker auch nach
       Ihrem Aussehen bewertet werden? 
       
       Mit Humor kann man es als genderpolitischen Fortschritt bezeichnen, dass
       auch Männer auf ihr Aussehen reduziert werden. Mich nervt’s.
       
       Ist gutes Aussehen ein Vorteil in der Politik? 
       
       Ich sehe halt aus, wie ich aussehe. Was nicht zu bestreiten ist, ist, dass
       Politik nicht vom Wahlomat gemacht wird, sondern von Menschen mit ihren
       Leidenschaften, Sperrigkeiten, Hoffnungen und Eigenarten. Menschen können
       etwas verändern. Das ist das große Versprechen der Demokratie. Aber mein
       Dreitagebart oder Annalenas Lederjacke sind nicht entscheidend, sondern
       die Frage, ob man ernsthaft für Themen eintritt.
       
       Manche finden, die Grünen müssten bei Neuwahlen einen Kanzlerkandidaten
       aufstellen. 
       
       Jetzt fängt die taz auch noch damit an.
       
       Wäre das angesichts der guten Umfragewerte nicht nur realistisch? 
       
       Unser Jahr lief deshalb gut, weil wir möglichst wenig über uns nachgedacht
       und alle Energie auf die Herausforderungen der Zeit gerichtet haben. So ist
       es überraschenderweise gelungen, aus der Opposition eine eigene politische
       Agenda zu setzen. Wenn ich auf etwas stolz bin, dann, dass wir vielleicht
       einen Anteil hatten, dass Deutschland nicht mehr nur wie in Genickstarre
       nach hinten rechts diskutiert.
       
       Im Moment profitieren eher die Populisten von charismatischen
       Persönlichkeiten. Warum eigentlich? 
       
       Es gibt auch charismatische linksliberale Politiker, in deren Wahlkämpfen
       der Personenfaktor wichtig war. Obama, Trudeau oder auch Macron. Aber es
       gibt eben auch Trump, Orban oder Salvini. Der Rechtspopulismus ist
       attraktiv, weil er verspricht, dass alles wieder wie früher wird. Das führt
       in die Irre. Die Kunst wird sein, die Schlagkraft des liberalen
       Rechtstaates zu stärken, indem man die Politik wieder auf Ballhöhe mit der
       Wirklichkeit bringt. Dafür muss sie anspruchsvoller werden und für teils
       radikale Änderungen sorgen, beim Klimaschutz, bei der Besteuerung des
       digitalen Kapitalismus…
       
       Sie wollen die ökosoziale Wende in Europa. Überall werden aber gerade
       rechte Nationalisten stärker. Wer sind Ihre Verbündeten? 
       
       Bei der ökologischen Frage ist die beste Verbündete die EU-Kommission. Wenn
       man sieht, welche Umwelt-, Klima- und Verkehrsgesetzgebung die oft
       beschimpfte Kommission auf den Weg bringt, muss man sagen: Die schieben es
       an, wir in Deutschland sind die Verhinderer, weil die Bundesregierung alles
       und jedes blockiert. Das war bei der Nitrat-Richtlinie in der
       Landwirtschaft zu beobachten und bei CO2-Grenzwerten für Autos. Der
       Hambacher Forst wurde durch eine EU-Artenschutz-Richtlinie vor der Rodung
       gerettet.
       
       Und auf welche EU-Staaten setzen Sie? 
       
       Bei der europäischen Integration waren Deutschland und Frankreich immer die
       Partner, die etwas bewegen konnten. Jetzt hat die Bundesregierung Emmanuel
       Macron eineinhalb Jahre am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Die Frage
       ist, wann sich das Zeitfenster für größere Integrationsschritte in der EU
       schließt. Was passiert, wenn auf Macron Le Pen folgt? Die
       Geschichtsvergessenheit der Bundesregierung ist atemberaubend.
       
       Wie beurteilen Sie die Umwelt- und Klimaschutzpolitik Emmanuel Macrons? 
       
       Seine akuten Probleme sind ja durch eine Benzinbesteuerung ausgelöst
       worden, die auch ökologisch wirken sollte. Die Besteuerung hätte vor allem
       einkommensschwache Haushalte getroffen, während Macron auf der andere Seite
       Reiche entlastet hat. Der Protest hat also tiefere Wurzeln.
       
       Sie betonen, dass Ökologie und das Soziale zusammengedacht werden müssten.
       Sehen Sie sich durch das Beispiel Frankreich bestätigt? 
       
       Der Zusammenhalt einer Gesellschaft ist nicht nur Mittel von Politik. Er
       ist ihr Ziel, weil eine Demokratie nur ein gewisses Maß an Ungleichheit
       verträgt. Aber ja, eine ökologische Politik ist auf eine soziale angewiesen
       Sonst verliert sie die nötigen Mehrheiten. In unserem Europawahlprogramm
       haben wir diesen Zusammenhang so deutlich wie noch nie hergestellt. Wir
       fordern zum Beispiel eine CO2-Steuer auf Kohlendioxid, wenn Öl oder Gas für
       Verkehr, Heizung und Landwirtschaft verbrannt werden. Weil sie aber
       Geringverdiener stärker belasten würde als Reiche, möchten wir sie als
       Energiegeld an die Verbraucher und Verbraucherinnen zurückzahlen.
       
       Haben Sie Sympathien für [4][die Gelbwesten]? 
       
       Nicht für die Gewalt. Und nicht für die teils destruktive, ungerichtete
       Haltung, die sich gegen „die da oben“ wendet. Aber was dahintersteckt, ist
       Frust, der sich aus dem Abgehängtsein speist, daraus, dass es in vielen
       Regionen kaum noch öffentliche Infrastruktur gibt, dass viele gerade mal
       von ihrer Hände Arbeit leben können. Das verstehe ich. Die soziale Frage
       wird zu einer demokratischen.
       
       Halten Sie solche Proteste auch in Deutschland für möglich? 
       
       Als Sahra Wagenknecht versuchte, die Aufstehen-Bewegung in München aus
       Solidarität mit den Gelbwesten auf die Straße zu bringen, kamen gerade mal
       200 Leute. Es ist ein gutes Zeichen, dass es bei uns noch ein
       Grundvertrauen ins Funktionieren des Rechtsstaats gibt. Wir können unsere
       Demokratie in Deutschland renovieren, ohne liberale Prinzipien, die
       erkämpft wurden, in die Tonne zu treten. Aber auch das ist ein Auftrag.
       
       Welche Probleme müssten in Europa am dringendsten gelöst werden? 
       
       Die Ökologie ist das eine. Aber die Frage nach Fairness und Zusammenhalt
       stellt sich neu und drängend. Es gibt einen wuchernden Niedriglohnsektor
       gerade im Dienstleistungsbereich, von der Pflege bis zu den Paketdiensten.
       Auf der anderen Seite betreiben Amazon, Facebook und andere Digitalkonzerne
       eine exorbitante Gewinnmaximierung, weil sie kaum Steuern zahlen. Das
       schürt das Gefühl von Ungerechtigkeit.
       
       Was kann man dagegen tun? 
       
       Ein Schritt wäre, eine am Umsatz orientierte Digitalsteuer einzuführen.
       Außerdem müssten Steuerschlupflöcher geschlossen werden. Millionenschwere
       Investoren zahlen durch legale Share Deals bei Immobilienverkäufen keine
       Grunderwerbsteuer. Das muss beendet werden. Alle Steuersparmodelle müssen
       dem Staat angezeigt werden. Wer solche Themen anginge, schlüge den
       Populisten Argumente aus der Hand.
       
       Wie setzen Sie eine Digitalsteuer um? Die Finanztransaktionssteuer wurde
       auf EU-Ebene jahrelang zerredet. 
       
       Da lobe ich gerne nochmal die EU-Kommission. Sie treibt Anzeigepflicht wie
       Besteuerung der Digitalkonzerne voran. Und wieder bremst die
       Bundesregierung. Ich begreife das gerade in Bezug auf Modelle von
       Steuervermeidung nicht. Dann würde eben mal nicht der Hartz IV-Bezieher
       drangsaliert, sondern die Steuerkanzlei müsste die Hosen runterlassen. Da
       brauche ich mir keine Gelbweste überziehen, um zu sagen: Macht das endlich!
       
       Die Union lehnt die meisten Ihrer Ideen ab. Lässt sich mit Schwarz-Grün
       oder in einem Jamaika-Bündnis eine progressive Europapolitik machen? 
       
       Das ist wirklich das Letzte, woran ich denke.
       
       Diese Frage ist entscheidend. 
       
       Ist sie nicht. Wir konzentrieren uns auf unsere eigene Agenda – und nicht
       auf machtarithmetische Fragen. Politik ist extrem dynamisch. Die Frage ist,
       wer kann die Dynamik erzeugen. So wurden die Wahlkämpfe in Bayern und
       Hessen geführt und gewonnen. Wer am wenigsten über sich nachdenkt, hat am
       meisten Kraft.
       
       28 Dec 2018
       
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