# taz.de -- Fakten, Wahrheit und der Krieg in Syrien: Auf dem Friedhof des Postfaktischen
       
       > Auch wenn viele es anders sagen: Es gibt sie, die eine Wahrheit, auch im
       > Krieg, auch in Syrien. Und es lohnt sich, nach ihr zu suchen.
       
 (IMG) Bild: Wahrheit gibt es nicht? Oh doch
       
       Wie oft haben Sie schon gehört, dass das erste Opfer des Krieges die
       Wahrheit ist? Und dass man, etwa im Syrienkonflikt, keiner Seite trauen
       könne, weil alle nur Propaganda verbreiteten und einen „Krieg der Bilder“
       führten? Wahrscheinlich sehr oft. So oft, dass manche Zeitungsleserin und
       mancher Fernsehzuschauer irgendwann beschloss, gar nichts mehr zu glauben.
       Und viele Journalisten resigniert dazu übergingen, alles abzubilden, was zu
       einem Ereignis gesagt wird. [1][Giftgasangriff in Syrien]? „Assad war es“,
       sagen die einen, „die Rebellen waren es“, behaupten die anderen.
       
       Am Ende bleibt das Gefühl, es gar nicht wissen zu können, weil die Wahrheit
       in diesem Krieg seit Langem gestorben ist. Schon sind wir in die Falle
       getappt. Die Falle der Verschwörungstheoretiker und Fake-News-Verbreiter,
       die sich nichts sehnlicher wünschen, als dass alles, was jemals untersucht,
       recherchiert und belegt wurde, auf dem Friedhof des Postfaktischen landet.
       Wo es mit so vielen „alternativen Fakten“ zugeschüttet wird, dass niemand
       mehr weiß, was und vor allem wem er noch glauben soll und sich kaum jemand
       die Mühe macht, nach der Wahrheit zu graben.
       
       Dabei gibt es sie, die Wahrheit – erst recht im Krieg. Denn dort passieren
       Verbrechen, die Täter und Opfer kennen, sodass ihre Aufklärung nur eine
       Wahrheit – nämlich den Tathergang – zutage fördert. Der Satz von der
       Wahrheit als Opfer des Krieges stammt aus dem Jahr 1914. Er besagt, dass
       Kriegsparteien ungeachtet der Tatsachen gerne ihre Versionen des Geschehens
       verbreiten.
       
       Das sollte nicht dazu führen, dass wir die Wahrheit zu Grabe tragen, es
       sollte im Gegenteil dazu ermutigen, sie zu suchen. Aber ist Wahrheit nicht
       relativ? Hat nicht jeder seine eigene Wahrheit? Nein, jeder hat seine
       Wahrnehmung, seine Sichtweise auf bestimmte Ereignisse. Genau diese
       Unterscheidung ist im Krieg grundlegend: Wahrheit lässt sich objektiv
       ermitteln, Wahrnehmung ist subjektiv.
       
       ## Viele unterschiedliche Versionen des Krieges
       
       In Syrien gibt es so viele Versionen dieses Krieges wie es Syrer gibt.
       Jeder Einzelne hat gute Gründe, die Dinge so zu sehen, wie er sie sieht –
       je nachdem wo und wie er den Krieg erlebt hat. Wer an der Küste keine Angst
       vor Luftangriffen haben musste oder in den kurdischen Gebieten im Nordosten
       relativ sicher war, denkt anders als die Bewohner von Ostghouta [2][oder
       Ostaleppo], die über Jahre von dem Regime bekämpft wurden.
       
       Wer in oppositionellen Orten Freiheit und Selbstorganisation kennengelernt
       hat, hat andere Ansprüche als die Menschen, die vier Jahre unter dem
       sogenannten Islamischen Staat (IS) gelitten haben und dann von den USA
       bombardiert wurden.
       
       Daneben gibt es im Syrienkonflikt Einschätzungen sogenannter Experten. Auch
       sie sind nicht mit der Wahrheit zu verwechseln, sondern stehen
       grundsätzlich zur Debatte. Im Optimalfall kennt ein Experte das Land
       persönlich, beherrscht die Sprache, liest viele unterschiedliche Quellen
       und folgt bei seinen Recherchen journalistischen Prinzipien. Nur dann kann
       er puzzeln. Also die Tausenden von Informationen, Meinungen, Videos und
       Nachrichten, die im Internet zu Syrien kursieren, einschätzen, in ihren
       Kontext setzen und verständlich machen.
       
       Je differenzierter die Analyse, desto anstrengender die Lektüre. Deswegen
       verkaufen sich einfache Erklärungen besser, vor allem, wenn sie
       selbstkritisch – also antiwestlich – daherkommen. Der Krieg in Syrien wird
       dann wahlweise auf einen westlichen Regimewechsel, einen geplatzten
       Pipelinedeal oder eine Anti-Iran-Intervention reduziert.
       
       ## Syrer tauchen kaum auf
       
       Syrer tauchen in diesen geostrategischen Planspielen um
       Geheimdienstdokumente und Rohstoffe bezeichnenderweise kaum auf – zumindest
       nicht als Handelnde, höchstens als Opfer von Missbrauch und Manipulation.
       Dadurch machen sich ihre Verfechter ausgerechnet das zu eigen, was sie
       kritisieren: eine zutiefst paternalistische Sichtweise. Als wären Syrer
       ohne die CIA nicht in der Lage, gegen ein Unrechtsregime aufzustehen.
       
       [3][Vor allem Linke und Friedensbewegte] greifen die Thesen von
       Regimewechsel und Pipelines gern auf, weil sie in ihr Jahrzehnte altes
       Denkschema von „Gut“ (antikapitalistischer Osten) und „Böse“
       (rohstoffgieriger imperialistischer Westen) passen. Dabei finden sich
       besonders unsoziale Auswüchse eines entfesselten Kapitalismus inzwischen in
       Russland und China, Syrien steht für Neoliberalismus und Nepotismus in
       Reinform.
       
       Außerdem gibt es in der internationalen Politik grundsätzlich keine Guten
       und Bösen, sondern nur Interessen. Außenpolitisch verfolgt jeder
       Staatsführer die Belange des eigenen Landes oder der eigenen Klientel – ob
       Donald Trump oder Kim Jong Un, Angela Merkel oder Wladimir Putin. Eine
       moralische Überlegenheit ergibt sich höchstens aus der Wahl der Mittel zur
       Durchsetzung dieser Interessen, da diese internationales Völkerrecht
       berücksichtigen müssen, was sie – auf allen Seiten – selten genug tun.
       
       Trotzdem gibt es in Syrien Gute und Böse, denn bei menschlichem Handeln
       gelten sehr wohl moralische Standards. Ein Arzt, der Medikamente in ein
       abgeriegeltes Gebiet schmuggelt, tut Gutes, ein Söldner, der sich an einem
       Checkpoint persönlich bereichert, nicht. Geheimdienstchefs, die sadistische
       Folter in ihren Haftzentren als legitimes Mittel der Einschüchterung
       betrachten, sind nach menschlichem (nicht westlichem) Verständnis ziemlich
       böse.
       
       ## Womit wir wieder bei der Wahrheit sind
       
       Genauso wie Rebellenführer, die ihr Bedürfnis nach Rache an gefangenen
       Soldaten ausleben. Ein unbewaffneter junger Mann, der für Freiheit
       demonstriert, ist besser als der Soldat, der auf ihn schießt, oder sein
       Vorgesetzter, der ihn dazu zwingt.
       
       Diesen moralischen Kompass drohen wir in Syrien zu verlieren, wenn wir
       vorgeben, nichts zu wissen, weil alle Seiten nur versuchten, mit
       Manipulation und Inszenierung unsere Wahrnehmung zu beeinflussen. Am Ende
       verwechseln wir Verbrecher und Leidtragende und erweisen damit jenen
       Wahrheitsverweigerern einen Dienst, die jedes Gerücht im Internet dankbar
       aufgreifen, um das Regime Assads vom Täter zum Opfer zu machen.
       
       Manche Pseudolinke haben den syrischen Konflikt so an ihr ideologisiertes
       Weltbild angepasst, dass sich eine „demokratisch legitimierte syrische
       Regierung“ gegen „westlichen Imperialismus zur Wehr setzt“.
       
       Womit wir wieder bei der Wahrheit sind. Es gibt in diesem Konflikt
       Tatsachen, die nicht zu leugnen sind. Der syrische Präsident ist nicht
       durch Wahlen legitimiert, da diese nicht frei, nicht geheim und nicht
       gleich sind. 43 Jahre lang ließen sich die Assads per Referendum ohne
       Gegenkandidaten im Amt bestätigen. Der gesamte Wahlvorgang liegt vom
       Zulassungsverfahren bis zur Stimmenauszählung in den Händen des Regimes.
       
       ## Andere Darstellungen halten sich hartnäckig
       
       Auch in Sachen Giftgas und Chlorin gibt es eine öffentliche Faktenlage. Von
       39 seit 2013 dokumentierten Fällen schreibt die unabhängige
       UN-Untersuchungskommission 33 dem Regime zu, für die übrigen sechs lässt
       sich keine eindeutige Täterschaft nachweisen. Wann immer in Syrien Sarin
       eingesetzt wurde, stammte es aus den Beständen des Regimes. Das ergab ein
       Abgleich der Proben mit den Stoffen, die Damaskus der Organisation für das
       Verbot von Chemiewaffen (OPCW) zur Vernichtung übergeben hatte.
       
       Daneben dokumentiert die UN-Kommission seit Jahren die gezielten Angriffe
       des Regimes und seiner Unterstützer auf zivile Infrastruktur wie
       Krankenhäuser, das Aushungern von Zivilisten als Kriegswaffe sowie die
       systematische Tötung von Zivilisten in den Haftzentren des Regimes.
       
       Berichte internationaler Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights
       Watch, Amnesty International und Ärzte ohne Grenzen bestätigen diese
       Methoden, die juristisch in die Kategorien Kriegsverbrechen und Verbrechen
       gegen die Menschlichkeit fallen. Gegen Assads persönlichen
       Sicherheitsberater, Ali Mamlouk, und Luftwaffen-Geheimdienstchef Jamil
       Hassan liegen deshalb internationale Haftbefehle vor.
       
       Und doch vertraut eine wachsende Zahl „kritischer Bürger“ im Internet
       kursierenden Verschwörungstheorien mehr als einer UN-Untersuchung, die
       wissenschaftliche Standards erfüllen muss. Etwa im Fall des Sarinangriffs
       auf Chan Scheichun am 4. April 2017 mit mehr als 80 Toten. Obwohl das
       Expertenteam von OPCW und UN nach der Auswertung aller Hinweise – Uhrzeit,
       Einschlagkrater, Luftangriff, Symptome der Opfer, Blut- und Bodenproben –
       die syrische Regierung für den Angriff verantwortlich macht, halten sich
       andere Darstellungen hartnäckig.
       
       ## Tatsachen sind zu respektieren
       
       Werden diese von renommierten Journalisten oder Wissenschaftlern
       unterstützt, erscheinen sie umso glaubhafter, selbst wenn sich diese
       Experten auf zweifelhafte Quellen stützen und ihre Behauptungen durch den
       Untersuchungsbericht eindeutig widerlegt sind. Das Misstrauen gegenüber
       etablierten Institutionen und Medien ist offensichtlich so groß, dass
       einzelne „Wahrheitsfinder“ als mutige Underdogs gefeiert werden, egal
       welchen Müll sie erzählen.
       
       Dies gilt auch für deutsche Professoren, die behaupten, sämtliche
       Chemiewaffenangriffe hätten „unter falscher Flagge“ stattgefunden, und
       damit den Boden der Wissenschaftlichkeit verlassen. Als Überzeugungstäter
       sind sie für die Verbreiter von Fake News besonders effektive
       Propagandainstrumente. Ein Wissenschaftler, der glaubt, was er sagt, wenn
       er Lügen verbreitet, ist das Beste, was Russia Today, Sputnik oder Fox News
       passieren kann. Denn seine abstrusen Behauptungen erfüllen den Zweck jeder
       Desinformationskampagne: so lange Zweifel an der Wahrheit zu säen, bis
       diese nur als eine von mehreren möglichen Versionen erscheint.
       
       Redaktionen, die im Syrienkonflikt nur die Positionen der Kriegsparteien
       verlautbaren, ohne sich die Mühe zu machen, diese mit einfach zu
       recherchierenden Fakten abzugleichen, werden Teil des Spiels. Morgens
       Experte A und nachmittags Experte B zu interviewen, hat nichts mit
       neutraler Berichterstattung zu tun, sondern entlarvt die eigene
       Unfähigkeit, Fake News zu erkennen.
       
       Wie also kann man der Wahrheit im Krieg Geltung verschaffen? Indem man
       unterscheidet: Wahrnehmungen müssen wir versuchen zu verstehen, Analysen
       kontrovers diskutieren. Tatsachen aber sind zu respektieren – auch in
       Syrien.
       
       18 Nov 2018
       
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       ## AUTOREN
       
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