# taz.de -- Flucht aus Syrien nach Nagorni-Karabach: Endlich wissen, wo der Feind steht
       
       > Zwei Brüder fliehen mit ihren Familien aus Syrien. Sie gehen dahin, wo
       > jederzeit wieder ein Krieg ausbrechen kann. Wieso?
       
 (IMG) Bild: Das Gewächshaus in Stepanakert ist Vrej Esmerians neues Zuhause
       
       STEPANAKERT taz | Das, was Vrej und Hovig Esmerian von allen anderen
       Menschen unterscheidet, die dem Krieg in Syrien entkommen sind, sind die
       15.000 Bäume, die sie aus der alten Heimat mitgenommen haben. Granatapfel,
       Olive, Feige, Mandel, Pfirsich.
       
       Und die Tatsache, dass sie in ein Land geflohen sind, in dem jederzeit ein
       anderer Krieg ausbrechen kann.
       
       Vielleicht auch noch, dass sie reich sind oder doch zumindest wohlhabend,
       denn reich, sagt Vrej Esmerian, reich sind doch nur Leute, die es sich
       leisten können, mit Geld ihre Zigaretten anzuzünden. Er hat da mal so ein
       Video gesehen von einem Mafiaboss in L.A., ja, der sei reich gewesen.
       
       Jeden Morgen um 8 Uhr startet Vrej Esmerian den bollernden Dieselmotor
       seines weißen Lada Niva vor dem Haus, in dem er und sein Bruder wohnen.
       Vrej, der Jüngere von beiden, 44 Jahre alt, sieht aus wie ein
       Schwergewichtsboxer, alles an ihm ist breit: Kopf, Nase, Arme, Beine. Sein
       Bruder erzählt über Vrej, er habe in Aleppo mal einen Taxifahrer geschlagen
       und als die Polizei sie dann beide verhaftete, hätte er dem Mann in der
       kalten Zelle seine Decke gegeben, weil der schließlich nur wegen ihm hier
       gelandet sei. Vrej fährt erst durch die asphaltierten Straßen des
       Stadtzentrums von Stepanakert und dann über holprige Sandwege zur ihrem
       Stück Land. 17 Hektar haben sie gekauft. Heute ist Feiertag, Vrej wird
       nicht arbeiten. Er fährt raus, um nach den Bäumen zu sehen.45.000 haben sie
       aus Syrien geholt. Die meisten verkauften sie, für den Neustart ihrer
       Leben. Aber 15.000 stehen noch hier draußen unter der Frühsommersonne und
       dahinter in den beiden Gewächshäusern, wo die Hitze und schwere feuchtwarme
       Luft süßherbe Gerüche durch die Nase ins Gehirn drücken. In Aleppo hatten
       die Brüder eine Autowerkstatt und ein Geschäft für Ersatzteile. Nun sind
       sie Obstbauern.
       
       Vrej erzählt, wie er morgens manchmal noch drei oder vier Arbeiter in der
       Stadt anwirbt und sie dann zusammen in seinem Jeep rausfahren. Wenn sie
       mehr Leute brauchen, nimmt sein Bruder Hovig den schwarzen Kia Rio, in dem
       die Familie aus Syrien geflohen ist. Vrej rast. „Zur Arbeit fahre ich immer
       schnell“, sagt er. „Die Polizei hält mich schon lange nicht mehr an.“ Wenn
       einen die Polizisten nicht mehr behelligen, dann ist man wohl angekommen in
       der neuen Heimat.
       
       Die neue Heimat, das ist Nagorni-Karabach, ein Stück Land, eingeklemmt
       zwischen Armenien und Aserbaidschan. Völkerrechtlich gehört es zu
       Aserbaidschan, aber nach dem Krieg Anfang der 90er Jahre, bei dem
       mindestens 25.000 Menschen starben, vielleicht aber auch 50.000, leben fast
       nur noch Armenier hier. Karabach nennt sich unabhängige Republik, aber ohne
       die finanzielle Hilfe und die Soldaten aus Armenien wäre der Kleinstaat
       kaum überlebensfähig. Vrej und Hovig Esmerian wohnen in einem Haus im
       Zentrum von Stepanakert, der Haupstadt. Hier gibt es einen Flughafen, auf
       dem aber niemand startet oder landet, weil es sich die Fluggesellschaften
       nicht mit Aserbaidschan verscherzen wollen. Außerdem ist die so genannte
       Kontaktlinie, an der sich die Soldaten trotz Waffenstillstand öfter
       beschießen, viel zu nahe.
       
       Warum sind Vrej und Hovig Esmerian aus der Zweimillionenstadt Aleppo
       ausgerechnet in diesen Landstrich gekommen, in dem nicht einmal 150.000
       Menschen wohnen, der von Feinden umgeben ist, in dem die Berge an nebligen
       Tagen erstickend nah heranrücken und aus dem nur eine große Straße
       herausführt, erst nach Armenien und dann in die Welt?
       
       „Wir haben genau geschaut, wo es einen Platz für uns gibt, bevor wir Syrien
       verlassen haben“, sagt Hovig Esmerian. Er ist vier Jahre älter als sein
       Bruder. Er spricht ruhig und er hat dieses George-Clooney-Grinsen, bei dem
       einen ein Junge aus dem Gesicht eines reifen Mannes anschaut. Hovig
       Esmerian sitzt in einem breiten Polstersessel, seine Frau Isabel kocht, die
       zehnjährige Tochter trägt Tee und Kekse ins Wohnzimmer. Im Fernseher läuft
       ein Bericht des russischen Senders Russia Today über den Krieg in Syrien.
       Hovig Esmerian erzählt, wie seine Familie nach und nach aus Aleppo
       verschwunden ist. Sein Bruder Vrej sitzt ihm auf einem Stuhl schräg
       gegenüber, er spricht nicht viel, sein Englisch ist nicht so gut wie das
       des Bruders.
       
       Das Verschwinden der Esmerians aus Aleppo hatte wenig mit überstürzter
       Flucht zu tun, sie haben auch keine Schlepper für eine Passage auf einem
       löchrigen Boot bezahlt. Nein, sie hatten einen Plan.
       
       Schon im Frühjahr 2011, nach den ersten Demonstrationen gegen Baschar al
       Assad, befürchten die Brüder, in Syrien könnte es zu noch größeren Unruhen
       kommen, zu einem Aufstand, jedenfalls zu etwas, bei dem sie beide nichts zu
       gewinnen haben. „Am Anfang haben die Menschen gegen die Korruption
       protestiert, die es in Syrien gab“, sagt Hovig Esmerian, „aber dann hat der
       Westen die Situation mithilfe seiner Geheimdienste in einen Bürgerkrieg
       verwandelt.“ Die Esmerian-Männer sagen beide, sie hätten gerne unter
       Baschar al Assad in Syrien gelebt: „Wir wurden als Christen nicht
       behelligt.“ Sie sind nicht die einzigen, die das so sehen. Großartig sei
       das Leben gewesen, sagt der Chef einer Nichtregierungsorganisation aus
       Jerewan, die sich um syrische Armenier kümmert, und dass er mit westlichen
       Medien eigentlich nicht rede, weil die den Bürgerkrieg in Syrien mit zu
       verantworten hätten.
       
       ## Armenien wirbt um eine Diaspora
       
       Und überhaupt Deutschland, sagt Hovig Esmerian, was für Leute habt Ihr da
       aufgenommen? 2015, als Deutschland seine Grenzen nicht geschlossen hat, da
       wären doch nur noch die Verzweifelten, Armen und Dummen aus Syrien übrig
       gewesen und diejenigen, die den Krieg dort erst angefangen hätten.
       Fanatische Muslime. „Die Schlauen und Vernünftigen sind vorher schon
       gegangen“. Sagt Hovig. Sein Bruder sieht das auch so, er sagt während der
       Fahrt im weißen Lada Niva, die Deutschen würden Adolf Hitler wieder
       schätzen lernen, denn der habe sein Land noch ordentlich verteidigt.
       
       Hitler? Echt jetzt?
       
       Nun, schreibt Hovig Esmerian später als Erklärung per Facebook-Messenger,
       ihm sei klar, wie missverständlich das klänge, aber Hitler sei eben ein
       Patriot gewesen und das wüssten sie zu schätzen. Und was die Muslime
       betrifft, so habe seine Familie natürlich auch muslimische Nachbarn gehabt,
       mit denen man problemlos ausgekommen sei, auch Freunde. Der Mann von dem
       man die Bäume in Syrien gekauft habe, der sei zum Beispiel so ein Freund.
       
       Hovig und Vrej jedenfalls wollen 2011 die Möglichkeit haben, möglichst
       schnell aus Syrien zu verschwinden. Sie gehen auf das armenische Konsulat
       in Aleppo. Sie beantragen die armenische Staatsbürgerschaft.
       
       Für armenische Christen wie sie ist das leicht. Ähnlich wie Israel wirbt
       Armenien um eine Diaspora, die bei weitem größer ist als seine Bevölkerung.
       Im Land knapp drei Millionen Armenier, in Russland, den USA und Europa sind
       es je nach Schätzung fünf bis zehn Millionen. Hovig und Vrej zeigten den
       Beamten im Konsulat Dokumente laut denen sie in einer armenischen Kirche in
       Aleppo getauft worden sind. Armenisch sprechen sie beide, wenn auch einen
       anderen Dialekt als er ein Armenien gebräuchlich ist. Viel mehr brauchen
       sie nicht. Im November 2011 fliegen sie in die armenische Hauptstadt
       Jerewan und holen sich bei der Einwanderungsbehörde ihre neuen Pässe ab.
       Dann geht Vrej Esmerian auf eine Tour durch das Land, das die neue Heimat
       werden könnte. Er soll auskundschaften, wo es sich gut leben lässt.
       
       ## Eine Nische, in der es für mehr als Überleben reicht
       
       Vrej meldet sich aus Nagorni-Karabach. Aus Stepanakert. Hier möchte er
       bleiben. Sie wären die einzige Familie aus Syrien in der Stadt.
       
       „Es ist gut, die einzige Blume im Garten zu sein“, sagt Hovig. „Die
       Menschen sind freundlich zu uns.“ In Armenien und besonders in Jerewan gebe
       es schon zu viele, die aus Syrien geflohen sind. Dort wären sie eine
       Flüchtlingsfamilie unter vielen, die um zu wenige Jobs konkurrieren. 22.000
       syrische Armenier seien seit 2011 ins Land gekommen, schätzt das
       Außenministerium. Diese Zahlen decken sich mit denen der
       Nichtregierungsorganisationen, die sich um syrische Armenier kümmern.
       Allerdings gehen diese Organisationen auch davon aus, dass 10.000
       Geflüchtete schon wieder ausgewandert sind, nach Kanada oder Europa.
       
       Hovig und Vrej Esmerian haben eine andere Idee: Sie werden Bauern.
       
       Autoteile wie in Aleppo können sie hier nicht verkaufen, glauben sie. Die
       Konkurrenz ist hart, der Markt bereits aufgeteilt. Sie suchen nach einer
       Nische, in der sie nicht nur überleben, sondern auch Geld verdienen können.
       Sie wollen Früchte anbauen, die sie aus Syrien kennen. Die Pfirsiche von
       dort sind praller und süßer als die aus Armenien, findet Hovig. Oliven
       sollten die Bauern in Nagorni-Karabach schon zu Sowjetzeiten anbauen, aber
       als das Imperium auseinanderfiel, kümmerte sich niemand mehr um die Bäume.
       Die Landwirtschaft liegt in der Familie, Vater und Onkel haben Roggen und
       Weizen angebaut, Vrej hat ihnen oft dabei geholfen.
       
       Während sein Bruder in Karabach nach einer Bleibe für die Familie sucht,
       wartet Hovig noch in Aleppo. Vielleicht beruhigt sich die Lage wieder. Dann
       explodiert am 18. März 2012 die Bombe eines Selbstmordattentäters nur
       wenige hundert Meter von ihrem Haus entfernt in Aleppo. Wir gehen,
       entscheidet die Familie. Hovig Esmerian sucht nach anderen, die mit ihnen
       kommen wollen, im Konvoi zu fahren, erscheint ihm sicherer und er sucht
       nach einem Führer, der sie durch die Checkpoints der kämpfenden Gruppen
       bringt. Im September 2012 sitzt Hovig Esmerian am Steuer seines schwarzen
       Kia Rio, die Frau neben ihm, die drei kleinen Kinder hinten. Der Führer
       bekommt etwa 100 Dollar für jedes Auto, insgesamt sind es dreizehn.
       
       ## 15.000 Bäume in einem Truck
       
       Der Mann bringt sie an den Posten der Rebellen vorbei. „Terroristen“, sagt
       Hovig. Sie fahren über Rakka, das damals noch von der syrischen Armee
       gehalten wird, sie stellen sich in die lange Schlange an der türkischen
       Grenze. Die Esmerians schlafen in der Stadt Dyabakir. Von dort geht es nach
       Georgien und dann weiter nach Jerewan. 1750 Kilometer, sie brauchen zwei
       Tage dafür.
       
       Sie mieten erst ein kleineres Haus in Stepanakert. Dann ein größeres. Das
       werden sie später kaufen. Es ist dasselbe, in dem Hovig Esmerian an diesem
       Tag im Mai sitzt und die Geschichte seiner Familie erzählt. Sie kaufen auch
       ein Stück Land. Dann holen sie die Bäume. Im März 2013 fliegt Hovig
       Esmerian nach Tartus, Syriens zweitgrößter Hafenstadt am Mittelmeer und
       kauft dort 15.000 Bäume. Sie passen alle in einen Truck. Eine Spedition
       fährt ihm die Fuhre nach Karabach, er selbst fliegt wieder nach Hause.
       
       2016 fährt Hovig Esmerian mit dem Auto nach Tartus. Mit dem schwarzen Kia,
       mit dem er einst geflohen ist. Er kauft doppelt so viele Bäume, er fährt
       vor, der Lkw hinterher. Der direkte Weg wäre der nach Nordosten, aber da
       müssten sie durch zu viel Krieg. Also nehmen sie die Straße Richtung Süden,
       nach Tripoli im Libanon. Dort bezahlt Hovig für die Fahrt auf einer Fähre,
       die sie in die Türkei bringen wird. Von da aus geht es über Georgien und
       Armenien wieder zurück nach Nagorni-Karabach.
       
       Hovig Esmerian hat mit seinem Handy Bilder gemacht. 30.000 Bäume klingt
       viel, aber auf dem Foto machen sie gerade einmal den halben LKW-Anhänger
       voll. Sie haben Setzlinge gekauft, die sind leichter zu transportieren. Die
       Esmerians pflanzen sie ein, sie warten. Werden die Bäume aus Syrien hier im
       kälteren Bergland überhaupt wachsen?
       
       ## Pfirsiche und Aprikosen, die kaum jemand will
       
       Sie arbeiten auf dem Feld, auch wenn niemand sonst draußen zu sehen ist. Es
       gibt einen Artikel mit Fotos einer Journalistin aus Stepanakert, der sie an
       einem heißen Augusttag 2015 bei der Arbeit zeigt: Hovig, seine Frau Isabel,
       sein kleiner Sohn. Zwei kalte Winter und Dürre haben viele Birnen- und
       Olivenbäume vernichtet. Die ersten Pfirsiche und Aprikosen zeigen seltsame
       Flecken und kaum jemand will sie haben. Sie müssen Bäume verkaufen, um Geld
       zu machen.
       
       Vrej und Hovig merken: Die geborenen Farmer sind sie nicht. Sie leisten
       sich Maschinen, die sie dann wieder abstoßen müssen, weil sie die gar nicht
       brauchen. Bis heute hat er 600.000 US-Dollar investiert, um sich in
       Nagorni-Karabach ein Leben aufzubauen, schätzt Hovig Esmerian. Würde er
       nicht noch einen anderen Job haben, mit dem er Männer aus den Philippinen
       und Äthiopien als Arbeitskräfte in die Vereinigten Arabischen Emirate und
       Katar vermittelt, wären sie schon pleite.
       
       Sie waren beide beim Viertagekrieg dabei, als Aserbaidschan und
       Nagorni-Karabach mit Artillerie, Panzern und Mörsern aufeinander geschossen
       haben, vor zwei Jahren im April. Vrej und Hovig Esmerian hatten sich
       freiwillig zur Armee gemeldet. Aber die Kämpfe waren nach vier Tagen wieder
       vorbei und so saßen sie nur in der Kaserne. „Wir sind nicht geflohen, weil
       wir Angst vor dem Krieg hatten“, sagt Hovig Esmerian, „aber das in Syrien
       ist ein Bürgerkrieg. Du weißt heute nicht, wer sich morgen gegen Dich
       wendet.“ In Nagorni-Karabach ist der Feind hingegen ganz klar:
       Aserbaidschan.
       
       Ob sie in Nagorni-Karabach bleiben werden? Die Lage zwischen der Republik
       Artsach wie sich Nagorni-Karabach selbst nennt und Aserbaidschan bleibt
       gespannt, in Stepanakert rechnen viele Menschen mit einem neuen Krieg.
       Dieses Jahr vielleicht noch, sagen sie, oder nächstes, jedenfalls bald.
       Aber Hovig und Vrej Esmerian wollen bleiben. „Anfangs waren wir sicher, wir
       kehren zurück“, sagt Hovig. Aber es werde in Syrien nie wieder das
       friedliche Zusammenleben von einst geben. Nicht nach so vielen Jahren
       Kampf, nach so vielen Toten. „Als Minderheit sind wir verletzlicher“, sagt
       er noch. „Wir können nicht wieder nach Aleppo.“
       
       Den Schlüssel zu ihrem Haus, den hat er aber noch. Das verbindet Hovig
       Esmerian mit vielen anderen Flüchtlingen aus Syrien. Das Gebäude hat sein
       Vater zusammen mit seinen Onkeln gebaut, er will sich davon nicht trennen.
       Was er damit vorhat, kann er nicht sagen. Will er auch nicht. Lohnt nicht
       drüber nachzudenken, wird die Zukunft zeigen.
       
       Transparenzhinweis: Die Reise nach Armenien und Nagorni-Karabach wurde von
       der Organisation EU Friends of Armenia bezahlt.
       
       21 Oct 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Schulz
       
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