# taz.de -- Ermitteln gegen die Zeit: Mord verjährt nicht
       
       > Wenn alte Mordfälle wieder aufgerollt werden, schlägt die Stunde der
       > Kriminalpolizei. Sind die „Cold Cases“ ihre neue Paradedisziplin?
       
 (IMG) Bild: Polizisten durchsuchen das Grundstück, das dem mutmaßlichen Serientäter gehörte, der auch die Doppelmorde von 1989 im Staatsforst Göhrde bei Lüneburg begangen haben soll.
       
       Auch nachdem sich Senior Detektive [1][Lilly Rush] einem Fall gewidmet hat,
       landet er wieder bei den Akten. Diesmal aber steht meist der große
       Schriftzug „Closed“ auf der Box, der markiert, dass der Fall endlich
       abgeschlossen ist. Mit feinfühligen Gespräche mit Angehörigen der Opfer,
       geschickten Befragungen der Zeugen, der Auswertung neuer Indizien hat Rush
       in Philadelphia zahlreiche teils lange zurückliegende Kriminalfälle gelöst.
       Zumindest, bis die TV-Produktion „Cold Case“ 2010 zu Ende ging.
       
       Es ist zu einem Großteil diese US-Fernsehserie, die Ermittlungen dieser Art
       bekannt gemacht hat. Als „Cold Cases“ werden auch im echten Leben
       ungeklärte Fälle bezeichnet, bei denen ein dringender Verdacht auf ein
       Tötungsdelikt besteht, das im Fall eines Mordes nicht verjährt, bei denen
       die Strafverfolgungsbehörden die Akten aber geschlossen haben.
       
       Vor allem neue Methoden bei der DNA-Analyse ermöglichen es heute, mit Hilfe
       kleinster Spuren Ergebnisse zu erzielen. In staubigen Akten und in den
       Tüten der Asservatenkammern schlummern neue Möglichkeiten und
       Ermittlungsansätze. Bislang ist es die Regel, dass Mordermittler sich immer
       mal wieder solche alten Akten vornehmen. Sobald aber ein aktueller Mord
       geschieht, hat das Priorität.
       
       Seit Ende 2016 kümmert sich in Hamburg eine eigene [2][Spezialeinheit] um
       ungelöste Altfälle. Auch in anderen Bundesländern steht das Thema auf der
       Tagesordnung. In Niedersachsen etwa hat die Polizei in 268 Tötungsdelikten
       oder versuchten Tötungen, die länger als ein Jahr zurückliegen, bis heute
       keinen Täter identifiziert. Bei 26 Vermissten gehen die Ermittler zudem von
       Tötungen aus. Eine eigene Einheit beim Landeskriminalamt wie in Hamburg ist
       in Niedersachsen allerdings nicht geplant. Stattdessen soll es für alte,
       ungelöste Fälle eine Datenbank geben, die Ermittlern aus allen
       Polizeidirektionen zugänglich ist.
       
       ## Filmreife Szenen
       
       Filmreif, aber real, sind Szenen, die sich derzeit in Bremen bei
       Ermittlungen zu einem Fall beobachten lassen, der 25 Jahre zurückliegt. Ein
       [3][ganzer See] ist Anfang Oktober leergepumpt worden, 260 Meter lang, 80
       Meter breit, rund 35 Millionen Liter Wasser. Die Ermittler hoffen, im
       Tietjensee die Leiche einer Frau zu finden, die verschwunden ist, ihr
       Lebensgefährte steht deswegen derzeit vor Gericht. Doch lohnt sich das? Für
       einen Fall von vor 25 Jahren? Andernorts konnten lang zurückliegende Taten
       aufgeklärt werden, führten aber zu Tätern, die bereits verstorben oder
       wegen anderer Morde längst eingesperrt sind.
       
       Als Gericht sei man es dem Opfer und den Angehörigen schuldig, „alles
       Menschenmögliche zu tun“, so hatte es in Bremen der Sprecher des
       Landgerichts erklärt. Angeklagt sei immerhin ein Kapitalverbrechen. Ähnlich
       beschreibt Steven Baack in Interviews, was ihn als Leiter der Hamburger
       Cold-Case-Einheit antreibt: „Wir wollen den Tätern klar machen, dass sie
       nie sicher sind – und den Opfern, dass wir sie nie vergessen.“ Das sagte er
       dem NDR, ein paar Monate, nachdem seine Einheit ihre Arbeit begann.
       
       Geht es also um die Opfer und die Angehörigen und das Ergreifen eines
       gefährlichen Täters, wie es Ermittler und Gericht betonen? Oder geht es
       auch allgemeiner um Abschreckung anderer, potenzieller Täter und das
       gesellschaftliche Vertrauen in den Rechtsstaat? Die meisten Morde seien
       nicht geplant, sondern geschehen spontan aus dem Affekt, erklären
       Kriminalisten. Kann Abschreckung da greifen? Andererseits gehört zu
       Cold-Case-Ermittlungen, das sieht man am Bremer Tietjensee, die öffentliche
       Inszenierung. Termine für Pressebesichtigungen begleiteten das Abpumpen des
       Wassers, der Fall füllte tagelang die Schlagzeilen. Auch die Arbeit der
       jungen Hamburger Cold-Case-Einheit ist eines der beliebtesten Themen der
       Gazetten und Radiostationen.
       
       Angesichts der in Deutschland herrschenden Idee über den Sinn und Zweck der
       Bestrafung kann man wohl sagen: Es geht mindestens um beides. Die
       Straftheorie unterscheidet zwischen der sogenannten Spezial- und der
       Generalprävention: Spezialprävention, um den Täter von weiteren Taten
       abzuhalten und ihn womöglich zur Besserung zu erziehen; Generalprävention,
       um andere von ähnlichen Taten abzuschrecken und das Vertrauen in den
       Rechtsstaat zu stärken. Hinzu tritt ein dritter Aspekt: die Gerechtigkeit,
       metaphysisch, ohne sozialtechnische Funktion. Wo es aber um Gerechtigkeit
       geht, darauf verweisen Rechtskritiker, heiligt der Zweck schnell die
       Mittel. Die Gefahr besteht, die rechtsstaatliche Grenzen zu strapazieren.
       
       Vermutlich war es der [4][Übereifer der Cold-Case-Ermittler], der in
       Hamburg vor ein paar Tagen zu einem Freispruch führte. Nach 38 Jahren stand
       ein Mann wegen versuchten Mordes vor Gericht. Am 1. November 1980 soll er
       in Hamburg-Steilshoop mehrfach auf ein Mädchen eingestochen, sie dann in
       ein Gebüsch gezerrt und versucht haben, sie zu vergewaltigen. Bei den
       neuerlichen Ermittlungen aber lief anscheinend einiges schief. In der
       Begründung des Freispruchs fand die Richterin deutliche Worte auch zur
       Arbeit der Cold-Case-Einheit, wie der Spiegel berichtet. Vieles habe darauf
       hingedeutet, dass das Opfer, der Angeklagte und auch der wichtigste Zeuge
       von den Ermittlern „höchst suggestiv“ befragt und „gegebenenfalls sogar
       getäuscht“ wurden. „Hätten wir zu Beginn gewusst, was wir heute wissen,
       hätten wir das Verfahren gar nicht eröffnet“, so die Richterin.
       
       Auch Richter Helmut Kellermann, der in Bremen das Verfahren im Zusammenhang
       mit dem abgepumptem Tietjensee führt, hatte die Eröffnung des Prozesses
       zunächst abgelehnt. Erst das Oberverwaltungsgericht zwang das Landgericht
       zu verhandeln. Wie schwierig das nun ist, zeigte sich vor ein paar Tagen
       bei der Befragung des Mannes, der 1994 als Junge den Tietjensee überhaupt
       erst in den Fokus rückte, weil er dort eine Tüte mit Sachen der
       Verschwundenen fand. Kaum noch kann er sich erinnern, was überhaupt noch in
       der Tüte war, die er damals aus dem See fischte und die auf ein Verbrechen
       hindeuteten. Rote Pumps? Eine Zahnbürste der Marke „Oral B“? Ein
       Lippenstift? Auch ob die Vermisste womöglich nach ihrem Verschwinden noch
       in einer Disko gesehen wurde, sie demnach abgehauen sein könnte und es zu
       gar keinem Verbrechen kam? Auf Zeugen zu setzen, ist nach so langer Zeit
       schwierig. Die reale Welt kennt keine Rückblenden.
       
       Verteidiger Horst Wesemann, der den angeklagten ehemaligen Lebensgefährten
       vertritt, drängt auf eine Beschleunigung. Er verweist auf Artikel 6 der
       Europäischen Menschenrechtskonvention, in dem es um das Recht auf ein
       faires Verfahren geht, und in dem es auch heißt, dass dieses „innerhalb
       angemessener Frist“ verhandelt werden müsse.
       
       Jasper von Schlieffen, der Geschäftsführer des Organisationsbüros der
       Strafverteidigervereinigungen, erklärt, dass Cold-Case-Verfahren auch für
       die Verteidigung eine Herausforderung sind. „Es ist extrem schwierig, nach
       40 Jahren noch ein Alibi zu beweisen“, sagt er. Zeugen seien verstorben,
       Erinnerungen verblasst. In anderen Schwurgerichtsverfahren sei die
       Schuldfähigkeit ein Standardthema, also die Frage, ob jemand alkoholisiert,
       depressiv oder psychotisch war. „Wenn man keine ärztlichen Unterlagen mehr
       hat, kann man eine auf den Tatzeitpunkt bezogene Einschränkung der
       Schuldfähigkeit aber nicht mehr feststellen.“
       
       ## Hilfe für zu Unrecht Verurteilte
       
       Gleichwohl zweifelt auch von Schlieffen nicht am Sinn von
       Cold-Case-Ermittlungen. Er wünscht sich aber eine Ausweitung in eine andere
       Richtung wie etwa beim [5][Innocence Project] in den USA. Diese NGO
       versucht, vor allem auf Grundlage neuer DNA-Analyse-Techniken,
       Justizirrtümer aufzuklären. Bei über 250 Menschen wurde bereits die
       Unschuld bewiesen, mehrere Todesstrafen aufgehoben. „So etwas gibt es in
       Deutschland noch nicht“, sagt von Schlieffen. „Kein Mensch kümmert sich um
       jemanden, der verurteilt ist und sitzt.“ Sich eigenständig darum zu
       kümmern, sei extrem aufwendig und teuer – und man bräuchte Zugriff auf
       bereits gesicherte Spuren.
       
       Irrtümer jedoch kommen auch zustande, wenn Menschen in Verdacht geraten,
       sie wegen ausbleibender Ermittlungen aber ihre Unschuld nie beweisen
       können. So war es etwa auch im Fall von Birgit Meier aus Lüneburg. Sie
       verschwand 1989, seit 1994 ruhten die Ermittlungen. Die Polizei
       verdächtigte zunächst ihren Ehemann. Dieser habe sie finanzieller Vorteile
       wegen umgebracht, so der Verdacht, es lief ein Scheidungsverfahren. „Die
       Leute haben seitdem über ihn getuschelt“, erklärt [6][Wolfgang Sielaff]. Er
       ist der Bruder von Birgit Meier. „Mein Schwager ist 25 Jahre als Mörder
       seiner Frau herumgelaufen. Und er ist bis heute nicht rehabilitiert.“
       
       Sielaff ist einer, der ohne Wenn und Aber dafür kämpft, dass
       Cold-Case-Einheiten ausgebaut werden. Hört man ihm zu, ist es schwer, sich
       seinen Argumenten zu entziehen. Er war lange Landesvorsitzender der
       Opferschutz-Initiative „Weißer Ring“ in Hamburg, davor Chef des Hamburger
       Landeskriminalamts. Mit der Ungewissheit um das Schicksal seiner eigenen
       Schwester musste er jahrelang leben.
       
       Es ist Sielaff zu verdanken, dass der Mord an seiner Schwester jetzt
       aufgeklärt werden kann. Nach seiner Pensionierung ermittelte er privat,
       zusammen mit einem kleinen Team an Freiwilligen, darunter der Hamburger
       Rechtsmediziner Klaus Püschel. Sielaffs Kontakte halfen ihm. Im Oktober
       2017 fand er die Leiche seiner Schwester in einer Grube auf dem Grundstück
       des mutmaßlichen „Göhrde-Mörders“ Kurt-Werner Wichmann.
       
       ## Leben aus den Fugen
       
       „Wenn in eine Familie ein Verbrechen einschlägt, gerät das ganze Leben in
       Sekundenbruchteilen aus den Fugen, nichts bleibt mehr wie es einmal war“,
       erklärt Sielaff. „Das haben auch wir erleben müssen.“
       
       Er selbst sei nach dem Verschwinden seiner Schwester in seinem Beruf stark
       gefordert gewesen, das habe ihn abgelenkt. Seine Mutter hingegen habe
       psychisch stark unter der unaufgeklärten Tat gelitten und sei darüber
       gestorben. „Sie hat bis zuletzt gehofft, dass die Tür aufgeht und ihre
       Tochter eintritt.“
       
       Die Verarbeitung eines Verbrechens in der Familie sei anders, als etwa nach
       dem Verlust eines Angehörigen durch einen Unfall. „Beim Unfalltod eines
       Angehörigen gibt es eher die Möglichkeit, mit dem Geschehen abzuschließen.“
       Auch hier gebe es kein Vergessen, aber man wisse, was passiert ist. „Es
       gibt ein Grab, einen Ort der Trauer“, so Sielaff. Der Fall seiner Schwester
       unterscheide sich insofern noch von anderen Mordfällen, weil sie über ein
       Vierteljahrhundert spurlos verschwunden war.
       
       Dass es viel Aufwand sei, es bei der Polizei zu wenig Personal und
       Ressourcen geben könnte, um lang zurückliegende Fälle zu bearbeiten? Diese
       Begründung könne nicht akzeptiert werden, so Sielaff. „Schließlich geht es
       um die schwersten Verbrechen, die unser Strafgesetzbuch kennt. Die
       Angehörigen und Hinterbliebenen haben einen Anspruch auf effektive
       Strafverfolgung. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon vor Jahren
       festgestellt.“ Und darauf besteht Sielaff auch, wenn der verdächtige Täter
       bereits verstorben ist, wie im Fall seiner Schwester.
       
       ## Ordnende Funktion
       
       Auch der pensionierte Polizist verweist auf die gesellschaftlich ordnende
       Funktion, die mit der Aufklärung ungelöster Fälle zusammenhängt. Und die
       Ohnmacht der Betroffenen könne zur Staatsverdrossenheit führen. Vor allem
       aber verweist er auf den Frust, die Verzweiflung und die Wut der
       Betroffenen, wenn schwerste unaufgeklärte Verbrechen vom Staat nicht
       wahrgenommen und beachtet werden.
       
       Natürlich wühle es wieder auf, wenn ein Verfahren erneut aufgenommen wird.
       „Es dominiert aber die Dankbarkeit darüber, dass sich wieder um den Fall
       gekümmert wird. Das ist den Betroffenen das Wichtigste, obwohl sie auch
       hoffen, dass der Fall doch noch geklärt wird.“
       
       Wer Sielaff zuhört, kann erahnen, dass unaufgeklärte Taten im Fernsehen der
       Stoff für Krimis sind, im echten Leben für die Betroffenen aber der Horror.
       
       Mehr über den Umgang der Polizei mit unaufgeklärten Mordfällen finden sie
       in der gedruckten Wochenendausgabe der taz.nord oder [7][hier].
       
       26 Oct 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.imdb.com/title/tt0368479/characters/nm0606700
 (DIR) [2] https://www.mopo.de/hamburg/polizei/soko--cold-cases--er-rollt-343-mordfaelle-in-hamburg-neu-auf-29906670
 (DIR) [3] https://www.butenunbinnen.de/videos/tietjensee-102.html
 (DIR) [4] https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Cold-Case-Fall-Prozess-endet-mit-Freispruch,urteil558.html
 (DIR) [5] https://www.innocenceproject.org/
 (DIR) [6] https://www.zeit.de/2017/42/wolfgang-sielaf-ex-lka-chef-mord-schwester
 (DIR) [7] /!114771/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jean-Philipp Baeck
       
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