# taz.de -- Leben auf der Straße: Ein harter Spaziergang
       
       > Klaus Seilwinder führt Interessierte an die Orte seiner Obdachlosigkeit.
       > Er erzählt von prügelnden Nazis, Minusgraden und freundlichen Polizisten.
       
 (IMG) Bild: Klaus Seilwinder zeigt Interessierten die Orte seiner Obdachlosigkeit
       
       „Ick bin ja immer der Kleenste, also stell ick mir hier druff.“ Klaus
       Seilwinder steht auf einer niedrigen Steinmauer am Rande eines Spielplatzes
       in der Leipziger Straße in Mitte. „Ick bin der Klaus, ja.“ Seilwinder ist
       61, von 2002 bis 2009 war er obdachlos, „vollet Programm Platte“. Ein
       kleiner hagerer Mann in Jeans, Wanderschuhen, Basecap, braune Joppe,
       darunter ein gestreiftes Hemd und am Handgelenk eine Armbanduhr. Der Regen
       weicht seinen Hemdkragen auf. „Solches Wetter ist das Beste für die Tour“,
       sagt er. Da bekomme man wenigstens ein Gefühl dafür, was es bedeutet,
       obdachlos zu sein.
       
       Seilwinder ist einer von mehreren ehemaligen Obdachlosen, die für den
       [1][Verein Querstadtein] Stadtspaziergänge anbieten: Sie führen
       Interessierte zu den Orten ihrer Obdachlosigkeit. Seilwinder erzählt an
       diesem regnerischen Tag Ende Oktober, wie er von Nazis einmal fast
       totgeschlagen wurde, wie ihm ein kleines Mädchen ein Stück Würde zurückgab,
       wie er bei minus 10 Grad im Freien überlebte.
       
       Aber erst spricht Klaus Seilwinder über sein altes Leben, das Leben vor der
       Platte. In einem Dorf bei Frankfurt an der Oder aufgewachsen, macht er nach
       der 10. Klasse seinen Chemiefacharbeiter und Fachabitur, dann geht er neun
       Jahre lang zur Armee. Später schult er auf Zootechniker um, bis zur Wende
       besamt er Schweine in einer kleinen Kolchose. „Dann ging das krachen, wie
       alles.“ Die Männer werden zu Maurern umgeschult, die Frauen zu
       Floristinnen. Als er fertig ist mit der Umschulung geht denen beim
       Arbeitsamt ein Licht auf: So viele Maurer braucht keiner, Brandenburg schon
       gar nicht. Seilwinder wird Saisonarbeiter: Tabak ernten, Spargel stechen.
       Immer mit dabei: Sein „blauer Kumpel“, wie er ihn nennt: der Alkohol. Mit
       16 hat er angefangen zu trinken, „und dann 40 Jahre durchgesoffen“.
       Irgendwann gibt es Probleme mit dem Bauern, bei denen er arbeitet.
       Schließlich „bin ich abgehauen“, sagt Seilwinder.
       
       Er strandet in Berlin. Frühjahr 2002, 46 ist er da: „Mal sehen, was in der
       Großstadt los ist.“ Er landet in der Bahnhofsmission, da wo sich „Junkies
       zu Junkies und Suffköppe zu Suffköppen“ gesellen. Seilwinder schließt sich
       einer Gruppe an, die im Tiergarten campiert. Immer wieder gibt es Streit
       und Gewalt, immer geht es um das gleiche Thema: „Wer kriegt abends den
       letzten Schluck?“ Irgendwer klaut mal all seine Sachen, „auch nur so ein
       armes Schwein wie ich“, sagt Seilwinder heute.
       
       ## Allein auf der Straße
       
       Er verlässt den Ort, den Schutz der Gruppe, wird zum fast unsichtbaren
       Einzelgänger. So wie die meisten Obdachlosen. „Zwei Dinge sind auf Platte
       am wichtigsten: Ein sicherer Bunker und ein sicherer Schlafplatz.“
       
       Seilwinder erzählt das alles und steht dabei noch immer auf seinem
       Mäuerchen unweit der Leipziger Straße. Wo jetzt ein Vier-Sterne-Hotel
       protzt, sei damals, als er obdachlos war, nur Brache und Gestrüpp gewesen:
       „Da war mein Bunker.“ Isomatte, Schlafsack und Wechselklamotten, in
       Müllsäcken fest verschnürt, „gegen die Nager“, und im Gebüsch „abgetarnt“.
       Auch sein Schlafplatz war hier, ein Kinderhäuschen auf dem Holzspielplatz:
       zweieinhalb Meter über den Ratten, über den Krabbelviechern, über dem
       frostigen Boden.
       
       „Der Joschka Fischer war damals mein Nachbar“, sagt Seilwinder. Ein Gebäude
       des Auswärtigen Amtes grenzt direkt an den Spielplatz, die Polizisten kamen
       manchmal früh mit einem Becher Kaffee. In den bittersten Nächten fragen
       sie, ob sie nicht doch den Kältebus schicken sollen. Aber bis minus zehn
       Grad hält Seilwinder durch: Pappe unter die Isomatte, und zwei Lagen
       Zeitung unter die Unterwäsche. „Besser als jede Funktionskleidung“, sagt
       er. Und wenn auch das nicht reicht, schläft er in einem der wenigen
       U-Bahnhöfe, die damals nachts extra für Obdachlose geöffnet sind.
       
       Seilwinder deutet auf seinem Mäuerchen auf die andere Seite des Platzes:
       Elfgeschosser, DDR-Plattenbau. „Wenn da morgens das Licht im Bad anging,
       wusste ich, ich muss mein Zeug zusammenpacken und abhauen.“ Seilwinder
       wollte immer unsichtbar bleiben, er wollte nicht, dass die Leute ihn im
       Kinderhäuschen sehen.
       
       ## Flaschensammeln fürs Überleben
       
       Einmal schafft er es nicht, rechtzeitig zu verschwinden, zu viel Bier am
       Abend davor. Plötzlich steht ein kleines Mädchen vor ihm: „Wer bist’n
       du?“–„Ick bin der Klaus“, hat er gesagt. Es ist der Beginn einer
       Freundschaft, mit dem Mädchen, mit der Mutter, mit der Familie, die bis
       heute währt. Jahrelang geht Seilwinder sonntags um halb zwölf zum
       Mittagessen zu seiner „Patenfamilie“. „Die haben mich einfach so genommen,
       wie ich bin und mit Respekt behandelt.“ Nur eine klare Regel gab es: Er
       musste ohne Fahne kommen.
       
       Inzwischen ist Seilwinder weiter spaziert, vor einem Mülleimer in der Nähe
       des Hausvogteiplatzes bleibt er stehen. Seilwinder will jetzt über Geld
       reden. Einmal Bierflaschenpfand habe ihm damals für eine Schrippe beim
       Billigbäcker gereicht. „Rein essenstechnisch kannste mit 5 Euro am Tag
       überleben.“
       
       Aber Seilwinder raucht und trinkt 15, 16 Flaschen Bier am Tag, manchmal
       auch einen ganzen Kasten. Rund 20 Euro braucht er dafür. Geld vom Amt
       kriegt er nicht ohne Meldeadresse. Betteln und Klauen kommen nicht in
       Frage, die Obdachlosenzeitung zu verkaufen, gelingt ihm nicht: „Dann bin
       ick eben Flaschensammler geworden.“
       
       Er wird in Mülleimern fündig, an Bushaltestellen und in U-Bahnhöfen: Dort,
       wo die Touristen sind, „die unser deutsches Pfandsystem nicht kennen“.
       
       ## Von Nazis verprügelt
       
       Auch das Franziskanerkloster in Pankow – für diesen Spaziergang liegt es zu
       weit weg, um vorbei zu schauen – wird Teil von Seilwinders Woche. Jeden
       Dienstag und Freitag gibt es dort eine Suppenküche. Wenigstens zweimal die
       Woche kann man dort zum Duschen hinkommen. Seilwinder kann dort seine
       Klamotten waschen und beim nächsten Mal wieder mitnehmen. Als
       Flaschensammler ist das wichtig, sagt Seilwinder, „so vergammelt“ komme man
       sonst nicht an den Sicherheitsleuten in vielen Supermärkten vorbei.
       
       Immer wieder landet Seilwinder in der Charité. Einmal springt er einer
       vietnamesischen Mutter bei, die von einem Neonazi angepöbelt wurde. „Ich
       hab nich gesehen, dass da noch zwei hinter der Bushaltestelle standen.“ Auf
       einmal ging es los, mit Baseballschlägern. Rippenbrüche, Nase gebrochen,
       Zähne ausgeschlagen, „die hätten mich totgeschlagen“. Doch dann sei ein
       Taxifahrer dazwischen gegangen, auch mit dem Baseballschläger. „So was ist
       mir öfter passiert, konnte meine Schnauze nicht halten.“ Überfallen,
       ausgeraubt: Irgendwann hat Seilwinder nicht mal mehr einen Personalausweis.
       
       Freunde gibt es auf Platte eigentlich nicht, sagt er, nur
       Zweckgemeinschaften. Seilwinder hat dennoch einen Kumpel: Der ist kein
       Obdachloser, aber er trinkt auch. Am Kaisers-Supermarkt in der Leipziger
       Straße haben sie öfter „eenen zusammen gezwitschert“.
       
       Der Kumpel ist ein Weintrinker, „dit ist konfliktmindernd“, sagt
       Seilwinder, so habe es wenigstens keinen Streit um den Alkohol gegeben. Für
       den Winter 2008/2009 darf er bei ihm wohnen. Der Kumpel setzt ihm ein
       Ultimatum: Wieder zurück ins Sozialsystem – oder er schmeißt seine Sachen
       aus dem Fenster. Es beginnt eine Odyssee durch die Ämter. Neue
       Geburtsurkunde beantragen, Passbilder, vorläufiger Personalausweis mit
       Stempel „OFW“ – ohne festen Wohnsitz.
       
       ## Raus aus der Obdachlosigkeit
       
       Ohne den Kumpel hätte er es nicht geschafft, sagt Seilwinder im Rückblick,
       ohne seine „Patenfamilie“ auch nicht. Die gibt ihm den wichtigsten Rat:
       „Wenn du mit Ämtern zu tun hast, sei immer pünktlich, früh um acht und ohne
       Fahne.“ So hat er es gemacht, sagt er. Woher die Disziplin? Die Armeezeit,
       glaubt Seilwinder.
       
       Inzwischen ist er auf seiner Tour am Gendarmenmarkt angekommen, „bei die
       Reichen“. Viele Touristen, sagt er, das habe viele Flaschen zum Sammeln
       bedeutet, aber auch mehr Konkurrenz. In einer öffentlichen Toilette hat er
       sich hier früher gewaschen und rasiert, mit eiskaltem Wasser: „Besser als
       nüscht.“
       
       Vor der Toilette erzählt Seilwinder auch den Rest seiner Geschichte. Er
       landete schließlich in einem Haus für nichtabstinente, alkoholkranke Männer
       in Schöneweide. Dort darf er weitertrinken. Doch irgendwann will er nicht
       mehr. 2012 nimmt er das Angebot der Einrichtung zu einer Entgiftungskur an.
       Da habe es dann „Klick gemacht“, sagt er. „Als ich die Alkoholleichen
       gesehen habe, in ihrem Kot und Erbrochenem.“
       
       Seit sechseinhalb Jahren ist Klaus trocken, in Oberschöneweide hat er eine
       kleine Wohnung. Sein Kumpel, bei dem er wohnen durfte, ist inzwischen tot.
       Das kleine Mädchen vom Spielplatz „anderthalb Köppe größer“ als er und
       studiert im vierten Semester. Die Erfahrungen auf Platte sind eingebrannt:
       „Deshalb misch ick och überall mit.“ Er moderiert eine Selbsthilfegruppe,
       auch in der Arbeitsgruppe Obdachlosenstatistik ist er dabei.
       
       Wenn man einem Obdachlosen helfen wolle, sagt Seilwinder am Ende der Tour,
       dann solle man ihn direkt fragen, ob man etwas tun könne: „Fragen gibt den
       Menschen Würde wieder.“
       
       26 Oct 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://querstadtein.org/ueber-uns/verein/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Manuela Heim
       
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