# taz.de -- #MeToo in Indien: Das Schweigen hat ein Ende
       
       > Indien belegt Platz 1 der gefährlichsten Länder für Frauen. Unzählige
       > Fälle werden jetzt über Social Media veröffentlicht – und finden Gehör.
       
 (IMG) Bild: Pionierin der #MeToo-Bewegung in Indien: Schauspielerin Tanushree Dutta
       
       Zehn Jahre hat es gedauert, bis Tanushree Dutta gehört wird. Zehn Jahre,
       bis sie endlich ernst genommen wird. Zehn Jahre, bis auch im patriarchal
       geprägten Indien die #MeToo-Bewegung endlich Fahrt aufnimmt.
       
       Dutta, Model und Schauspielerin, hatte bereits vor zehn Jahren öffentlich
       gemacht, dass sie während der Dreharbeiten für eine Tanzszene eines
       Bollywood-Films von ihrem Filmpartner Nana Patekar unangemessen berührt
       wurde. Als sie sich weigerte, die Szene zu Ende zu drehen, und versuchte,
       das Set zu verlassen, wurde ihr Auto von Männern gestoppt und demoliert. In
       einem Handyvideo ist eine zerstörte Windschutzscheibe ebenso zu sehen wie
       Männer, die auf dem Wagendach auf und ab springen.
       
       Die Enthüllungen der ehemaligen Miss India wurden damals von der indischen
       Presse aufgegriffen, verschwanden aber nach wenigen Tagen wieder aus der
       Öffentlichkeit. Der beschuldigte Schauspieler weist die Vorwürfe bis heute
       zurück und hat Dutta der Lüge bezichtigt.
       
       Auch als die mittlerweile 34-Jährige vor einigen Wochen aus ihrem selbst
       gewählten Exil in den USA nach Indien zurückkam und ihre Vorwürfe
       erneuerte, fand das zwar wieder in der Presse Resonanz, aber
       überraschenderweise folgten keine weiteren Frauen dem Vorbild Duttas.
       
       ## Die Aufmerksamkeit wächst
       
       Indien gilt als das [1][weltweit gefährlichste Land für Frauen], das zeigte
       eine Studie im diesjährigen Sommer. Jeden Tag werden dort mehr als 100
       Vergewaltigungen bei der Polizei angezeigt. Immer wieder gibt es Berichte
       über Massenvergewaltigungen. Doch nicht nur die Belästigungen und
       Vergewaltigungen gehören zum indischen Alltag. Massiver Machtmissbrauch und
       Sexismus am Arbeitsplatz, bleiben weiterhin ein offenes Geheimnis.
       
       Wenige Tage nachdem Dutta ihre Vorwürfe erneut bekräftigt hat, ist nun doch
       alles anders. Twitter explodiert. Täglich, stündlich, nahezu minütlich
       enthüllen Frauen über die sozialen Medien sexuelle Übergriffe von Kollegen,
       Vorgesetzten oder vermeintlichen Freunden.
       
       #MeToo beherrscht die Schlagzeilen der Zeitungen und Nachrichtenkanäle in
       einem Land, in dem Schauspieler wie Götter verehrt werden und einer der
       beliebtesten Filmplots darin besteht, dass ein Mann eine Frau so lange
       gegen ihren Widerstand umwirbt, bis sie schlussendlich doch noch schwach
       wird.
       
       ## Vorfälle in der Politik
       
       Ein strukturelles Problem der Gesellschaft, das nun durch eine Vielzahl von
       Anschuldigungen belegt wird. Doch die Vorwürfe reichen weit über die
       Filmbranche hinaus. Der bislang prominenteste Beschuldigte ist M. J. Akbar,
       Minister of State im Außenministerium, vergleichbar mit unserem
       Staatssekretär, und Mitglied der Hindu-nationalistischen Regierungspartei
       BJP. Bevor er in die Politik ging, war der 67-Jährige ein einflussreicher
       Journalist und Herausgeber, der mehrere Zeitungen aufbaute und diverse
       Bücher schrieb.
       
       Ein mächtiger Mann, dem vorgeworfen wird, seine Macht missbraucht zu haben.
       Mindestens 14 Frauen haben bislang Vorfälle aus Akbars Zeit im Journalismus
       in den achtziger und neunziger Jahren beschrieben: Akbar soll anzügliche
       Mails geschickt, Frauen über Telefon und SMS belästigt, Kolleginnen
       begrapscht und unpassende Komplimente verteilt haben. Zudem soll er
       Journalistinnen spät in der Nacht zu Sitzungen befohlen und zu
       Vorstellungsgesprächen auf seinem Hotelzimmerbett eingeladen haben.
       
       Die mit überdurchschnittlich vielen jungen Journalistinnen besetzte
       Redaktion der von ihm 1994 gegründeten Tageszeitung The Asian Age soll in
       der Medienbranche als „Akbars Harem“ firmiert haben.
       
       ## Täter inszeniert sich als Opfer
       
       Mittlerweile rücken – zumindest inoffiziell – auch Partei und Regierung von
       Akbar ab. Medien zitieren bislang noch anonyme Quellen, dass BJP-Granden,
       sechs Monate vor den Parlamentswahlen um das Saubermann-Image der Partei
       besorgt, dem „sex-pest minister“ (Mumbai Mirror) den Rücktritt nahelegen.
       
       Der allerdings ging, als er am Sonntag nach einer Afrikareise wieder
       indischen Boden betrat, erst einmal in die Offensive: Die Vorfälle seien
       erfunden, die Vorwürfe Teil einer politischen Kampagne, er selbst sei
       völlig unschuldig und denke nicht an Rücktritt. Im Gegenzug drohte er den
       Frauen mit Verleumdungsklagen – ein in Indien beliebtes Mittel, um
       politische Gegner mundtot zu machen.
       
       Aber Akbar ist nicht der Einzige. Unter den Beschuldigten sind bisher vor
       allem Journalisten, aber auch Schauspieler, Regisseure, Musiker, Komiker,
       Schriftsteller oder Fotografen. Besonders bekannt ist auch der
       Bestsellerautor Chetan Bhagat, dessen Romane sich in Millionenauflage
       verkaufen. Bhagat hat sich mittlerweile entschuldigt.
       
       ## Überraschendes Schuldeingeständnis
       
       Längst kursieren Listen, auf einer sind 82 Namen von Männern aufgeführt,
       denen sexuelle Gewalt vorgeworfen wird. Pressekollegen erzählen von
       Flüsternetzwerken, in denen sich Frauen gegenseitig vor Angreifern warnen;
       in den Kaffeepausen in den Redaktionskantinen gibt es kaum noch ein anderes
       Thema, jeder kennt jemanden, der gerade an einer Geschichte arbeitet, in
       der ein weiteres Dutzend Namen aus der Entertainmentindustrie, den Medien
       oder der Politik enthüllt werden soll.
       
       „Die Dämme sind gebrochen“, schreibt The Hindu, eine der größten
       englischsprachigen Zeitungen des Landes.
       
       Ausgelöst wurde die aktuelle Welle der Beschuldigungen aber weder von der
       Schauspielerin Dutta noch von dem Politiker Akbar, sondern von einer
       Stand-up-Comedian. Eine Frau beschuldigte Anfang Oktober den Comedian Utsav
       Chakraborty ihr unverlangt Bilder von seinen Genitalien geschickt zu haben.
       Schnell fanden sich weitere Frauen, die von ähnlichen Belästigungen durch
       den Komiker berichten konnten.
       
       Der reagierte überraschend: Statt irgendetwas abzustreiten, entschuldigte
       er sich für sein „unangemessenes Verhalten“, bezeichnete sich selbst als
       „Stück Scheiße“ und versprach, an sich arbeiten zu wollen.
       
       ## Unzählige Übergriffe
       
       Ermutigt durch die große Resonanz, berichteten immer mehr Frauen von ihren
       Erfahrungen. Journalistinnen beschrieben, wie sie, angeblich um einen
       Artikel zu besprechen, in die Wohnung des Chefredakteurs bestellt wurden.
       Eine Zeitung soll eine Art Escort-Service betrieben haben, bei dem
       Jungredakteurinnen den Herausgeber zu abendlichen Empfängen begleiten
       mussten.
       
       Aber ungewollte Berührungen, Küsse und körperliche Attacken scheinen nicht
       nur in Indiens Medienhäusern an der Tagesordnung zu sein. Schauspielerinnen
       erzählen, dass sie von Kollegen nicht nur während der Drehs regelmäßig
       betatscht werden, sondern auch von K.-o.-Tropfen und Vergewaltigungen. Ein
       Regisseur soll auf eine Mitarbeiterin masturbiert haben.
       
       Frauen, die den ungewollten Avancen nicht nachgaben oder sich gegen obszöne
       Sprüche wehrten, wurden anschließend gedemütigt, in ihrem Fortkommen
       behindert und mussten sich oft genug neue Jobs suchen.
       
       ## Erste Konsequenzen
       
       Noch wird die #MeToo-Debatte in Indien ausschließlich in der gut
       gebildeten, meist englischsprachigen Mittelschicht geführt. Die große
       Mehrzahl der Frauen hat mit sehr viel konkreteren Problemen zu kämpfen,
       wenn in einer Stadt wie Mumbai noch nahezu 60 Prozent der Bevölkerung in
       Slums auf engstem Raum ohne Privatsphäre und eigene Toilette leben.
       
       Aber eines ist klar: #MeToo ist nun endlich in Indien angekommen – und das
       mit Kraft. Auf die Vorwürfe folgen erste Konsequenzen: Die Produktion einer
       Comedy-Serie wurde abgesagt, weil es Vorwürfe an einen der beteiligten
       Komiker gab. Ein renommierter Journalist hat nach Anschuldigungen seine
       Mitgliedschaft in einem führenden Thinktank aufgegeben, andere wie K. R.
       Sreenivas, Redakteur der Zeitung Times of India, haben ihre Posten geräumt.
       
       Eine kleine Filmproduktionsfirma wurde geschlossen. Und Bollywood-Superstar
       Aamir Khan hat sich aus einem Projekt zurückgezogen, weil einem der
       Beteiligten Belästigungsvorwürfe gemacht wurden.
       
       ## „Ich will, dass es ungemütlich wird“
       
       Die indische #MeToo-Pionierin Tanushree Dutta ist inmitten der Aufregung
       eine beliebte Interviewpartnerin und wundert sich über die neue
       Aufmerksamkeit: „Gehört zu werden war etwas, womit ich nicht mehr gerechnet
       hatte.“ Nun, mit zehnjähriger Verspätung, will sie aber nicht mehr nur
       gehört werden, sondern endlich auch Gerechtigkeit.
       
       Ende vergangener Woche besuchte die Schauspielerin unter Blitzlichtgewitter
       eine Polizeistation im Norden von Mumbai, um dort Anzeige nicht nur gegen
       ihren ehemaligen Filmpartner zu erstatten, sondern auch gegen den Regisseur
       und den Produzenten des Films sowie den Choreografen der Tanzszene.
       
       Dutta will auch die Mitwisser vor Gericht bringen. Sie will, dass sich
       grundsätzlich etwas ändert in Indien, bevor sie im Januar wieder wie
       geplant in ihre neue Heimat USA zurückkehrt: „Es muss sich etwas ändern.
       Ich will, dass es ungemütlich wird.“
       
       16 Oct 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.tagesschau.de/ausland/indien-frauen-101.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Winkler
       
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