# taz.de -- Vor der Parlamentswahl in Afghanistan: 2.565 wollen rein
       
       > Es ist nicht leicht, den afghanischen Wahlkampf zu überblicken. Es gibt
       > keine Listen, die Taliban mischen mit und die Bevölkerung ist skeptisch.
       
 (IMG) Bild: Nicht jeder der KandidatInnen hat die Mittel für den Wahlkampf
       
       Kabul taz | Auf dem Wahlplakat von Chiali Zarwan steht „Mann der Tat nicht,
       Mann der Parolen“. Die Druckerei hat das Komma verrutschen lassen, und
       Zarwan kann nur hoffen, dass nicht allzu viele Wähler den Fehler bemerken.
       Aber in den Straßen der Hauptstadt Kabul, in Herat und in den anderen
       großen Städten Afghanistans hängen so viele Plakate für die Parlamentswahl
       am kommenden Samstag, dass seines da ohnehin leicht zu übersehen ist.
       
       Diese Vielfalt hat ihren Grund darin, dass die Parteien keine Listen
       aufstellen dürfen. Jeder und jede geht als Einzelkandidat oder -kandidatin
       ins Rennen. Landesweit kandidieren 2.565 Personen für 250 Parlamentssitze,
       darunter 418 Frauen. Allein in Kabul sind es 804. Deshalb ist der
       Wahlzettel 15 Seiten stark, im Zeitungsformat. Viele Menschen sind immer
       noch Analphabeten. Nicht nur für sie wird es schwierig werden, sich da
       zurechtzufinden.
       
       Jede der [1][34 Provinzen Afghanistans] ist ein Wahlbezirk, dem nach der
       jeweiligen Bevölkerungszahl eine Anzahl von Sitzen zugeteilt wurde. Kabul
       hat mit 33 die meisten. In jeder Provinz ist eine Anzahl von Sitzen für
       Frauen reserviert; in Kabul sind es 9. Auch für Nomaden, Sikhs und Hindus
       gibt es eine Quote.
       
       Auf den Listen drängen sich jede Menge Unbekannte. Darunter sind viele, die
       „ihre zehn Minuten als Politstar genießen wollen“, spottet Schams Alemi,
       der Jura studiert hat, aber als Wachmann in Kabul arbeitet. Er heißt
       eigentlich anders, will seinen Namen aber nicht in der Zeitung lesen.
       
       Dazu kommen einige der reichsten Geschäftsleute des Landes, die sich
       politisches Prestige und in manchen Fällen wohl auch parlamentarische
       Immunität verschaffen wollen. Außerdem treten Verwandte zahlreicher
       Warlords an, die die Macht ihrer Familien auch in der nächste Generation
       absichern wollen. Beide Gruppen überlappen sich oft.
       
       Außerhalb der Städte wird es um den Wahlkampf still. In der Provinz Herat,
       die bis vor Kurzem als verhältnismäßig sicher galt, ist nur in Herat, der
       gleichnamigen Hauptstadt, und drei nahe gelegenen Distriktzentren wirklich
       etwas los. Die Straßen in die anderen Distrikte werden immer wieder von
       Taliban besetzt; damit ist auch die Versorgung mit Wahlmaterial und der
       Zugang für Kandidaten und Wahlhelfer unterbrochen.
       
       ## Angst vor den Taliban
       
       In Herat-Stadt sorgte eine Serie von Bombenanschlägen dafür, dass viele
       Menschen sich gar nicht erst registrierten. „Sie befürchten, dass die
       Taliban ihnen die Köpfe abschneiden, wenn sie sie mit dem
       Registrierungssticker auf ihrem Ausweis erwischen“, sagt ein Gemeindechef
       der Minderheit der Hasara.
       
       In Herats Nachbarprovinz Badghis ist die Hauptstadt Qala-i-Naw von den
       Taliban umzingelt. Dort kann sich kein Kandidat auf das Land hinauswagen.
       Auch in Logar, gleich südlich von Kabul und in Maimana, der Hauptstadt von
       Farjab, ist der Wahlkampf außerhalb der Provinzhauptstädte zum Stillstand
       gekommen. Die Taliban beherrschen etwa die Hälfte des Landes und operieren
       ausnahmslos in allen Provinzen.
       
       Mancherorts haben Kandidaten mit ihnen Abmachungen getroffen. „Ich habe sie
       gebeten, mein Kampagnenmaterial in meinen Heimatkreis Kaisar
       durchzulassen“, erzählt Hassan Serdash in Farjab, einer von landesweit
       mehreren Dutzend Journalisten, die in die Politik umsteigen wollen. „Sie
       haben sich die Nummer des Autos geben lassen und ließen es durch.“
       
       Das war vor dem 8. Oktober. An diesem Tag riefen die Taliban zum
       Wahlboykott auf und hielten ihre Kämpfer dazu an, „alle Hebel in Bewegung
       zu setzen“, um die Wahlen zu verhindern. Die Zivilbevölkerung solle
       geschont werden, erklärten sie gleichzeitig, sodass hoffentlich zumindest
       Anschläge auf Wahllokale ausbleiben werden. Vom örtlichen Ableger des
       „Islamischen Staates“ dagegen ist nicht so viel Rücksichtnahme zu erwarten.
       Deshalb findet Wahlkampf inzwischen meist hinter schützenden Mauern statt.
       
       [2][Zur prekären Sicherheitslage] kommt weit verbreitete Skepsis unter den
       Wählern. „Die Kandidaten kümmern sich nur vor den Wahlen um uns, danach
       vergessen sie ihre Versprechen“, sagt etwa Automechaniker Muhibullah aus
       Kabul. Auch er heißt eigentlich anders. Andere würden gern wählen, wenn sie
       nur wüssten, dass ihre Stimme zählt. Furcht vor den Taliban ist ein Grund,
       tiefe Enttäuschung von den derzeitigen Abgeordneten ein anderer. Die Raten
       der Zustimmung zu den Politikern liegen laut einem Kabuler
       Forschungsinstitut im einstelligen Bereich.
       
       Selbst junge, gut gebildete Regierungsangestellte, die bisher Präsident
       Aschraf Ghani unterstützt haben, wenden sich zunehmend von ihm ab.
       Enttäuscht von Ghani sind auch die kleinen demokratischen Parteien, die ihn
       noch bei der Präsidentenwahl 2014 unterstützt haben. Keine von ihnen hat
       diesmal überhaupt Kandidaten aufgestellt.
       
       Respekt genießt hingegen Ramazan Baschardost, ein ehemaliger Minister, der
       in Kabul zur Wiederwahl antritt und mit einer im afghanischen
       Schwarz-Rot-Grün gespritzten Rostlaube auf Straßenwahlkampf setzt. Auf
       seiner Facebook-Seite zeigt er sich aber auch populistisch, Geldscheine an
       Straßenkinder und bettelnde Frauen verteilend. Sein Wahlslogan: „Nehmt das
       Brot der Diebe, aber gebt eure Stimme mir.“
       
       Das spielt auf die weit verbreitete Sitte an, Wähler bei
       Wahlveranstaltungen zu verköstigen. Zu den Menschen, die im Wahlkampf
       Zuspruch erfahren, gehören auch Baqi Samandari und Sahra Jagana. Samandri
       hat sich wegen seiner langjährigen Arbeit mit Straßenkindern einen Namen
       gemacht. Sahra Jagana kümmert sich um Hinterbliebene von Terroropfern und
       hat eine Freiwilligengruppe gegründet, die Kabuls notorisch verdreckte
       Parks und Straßen säubert.
       
       ## Wie viele gehen wählen?
       
       Die große Frage, die hier alle umtreibt, ist jedoch: Wie viele Menschen
       werden überhaupt wählen gehen? Davon hängt die Legitimität des
       Wahlergebnisses ab. Und wie viele Stimmen überhaupt gezählt werden. Denn
       ein weiteres Fragezeichen steht hinter den neuen biometrischen Geräten, die
       die Fingerabdrücke von Wählern speichern sollen, um Mehrfachvoten zu
       verhindern. Das hat die Regierung im letzten Moment durchgesetzt, gegen den
       Einwand von Wahlberatern.
       
       Denn die Daten können nicht in Echtzeit an die Zentrale übertragen werden
       – in 9 der 34 Provinzen gibt es nur von 6 bis 10 Uhr morgens Internet, und
       auch in den anderen ist es alles andere als stabil. Ungültige Stimmen
       können daher erst im Nachhinein ausgesondert werden. Deshalb soll es
       vorläufige Ergebnisse auch erst am 10. November geben und das Endergebnis
       nach einer Einspruchsperiode am 20. Dezember.
       
       Zudem ist zu befürchten, dass das Personal in vielen Wahllokalen nicht mit
       der Technologie klarkommt und dadurch viele Stimmen unter den Tisch fallen
       könnten. Bei vergangenen Wahlen verschwanden ganze Wahlurnen auf dem Weg in
       die Provinzzentren, Ähnliches könnte diesmal mit den biometrischen Zählern
       geschehen. „Niemand will wirklich wissen, wie viele echte Wähler es gibt“,
       meint eine Diplomatin in Kabul.
       
       Dass Afghanistans Wahlsystem manipulationsanfällig ist, ist bekannt. „Es
       kommen ja nur 250 Kandidaten durch“, sagt Rahmatullah Amiri, der bei einem
       afghanischen Thinktank in Kabul arbeitet, „und die anderen 2.250 werden
       Gründe finden, um zu behaupten, ihr Ergebnis sei manipuliert worden.“
       
       Dass die Löcher im System nicht gestopft wurden, kann man als bewusste
       Sabotage von transparenten Wahlen und als Teil der Manipulationen von oben
       interpretieren. Mit demokratischen Verhältnissen, wie nach dem Sturz der
       Taliban auf der Afghanistan-Konferenz 2001 in Bonn vereinbart, hat das
       alles wenig zu tun. Afghanistans wahre Demokraten sind wahrscheinlich jene,
       die das erkannt haben und sich deshalb nicht mehr beteiligen, ob als Wähler
       oder als Kandidaten.
       
       14 Oct 2018
       
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